»Fünf Jahre schweren Kerker in einer Festung«, gab Herr Verloc unerwartet zurück, doch ohne jedes betonte Gefühl.
»Da sind Sie billig davongekommen«, war Herrn Vladimirs Antwort. »Und jedenfalls ist Ihnen recht geschehen, weil Sie sich erwischen ließen. Wie sind Sie dazu gekommen?«
Man hörte Herrn Verlocs heisere Gesprächsstimme von Jugend reden, von einer unglücklichen Neigung zu einer unwürdigen – –
»Aha, cherchez la femme«, geruhte Herr Vladimir zu unterbrechen, nachlässig, doch ohne Freundlichkeit. Es lag sogar eine Spur von Grimm in seiner Herablassung. »Wie lange werden Sie schon von unserer Gesandtschaft verwendet?« fragte er.
»Seit den Tagen des verstorbenen Barons Stott-Wartenheim«, antwortete Herr Verloc unterwürfig und schob betrübt die Lippe vor, als Zeichen des Kummers um den verblichenen Diplomaten. Der erste Sekretär beobachtete schweigend dieses Mienenspiel.
»Ah, seit damals … nun gut, was haben Sie für sich vorzubringen?« fragte er dann scharf.
Herr Verloc gab einigermaßen überrascht zurück, daß er nichts Besonderes zu sagen wisse, er sei brieflich bestellt worden – und dabei griff er geschäftig in die Seitentasche seines Überziehers, ließ aber unter dem spöttischen Späherblick Herrn Vladimirs seine Hand darin stecken. »Bah,« sagte der, »was soll es denn heißen, daß Sie so ganz außer Form kommen? Sie erfüllen ja nicht einmal die körperlichen Bedingungen für Ihren Beruf? Sie – ein Mitglied des hungernden Proletariats – niemals! Sie – ein verzweifelter Sozialist oder Anarchist – was sind Sie?«
»Anarchist«, bestätigte Herr Verloc dumpf. »Unsinn,« fuhr Herr Vladimir fort, ohne die Stimme zu heben, »Sie haben sogar den alten Wurmt überrascht. Sie könnten keinen Trottel täuschen; das sind sie zwar alle, am Rande bemerkt, – Sie aber scheinen mir einfach unmöglich. Sie haben also Ihre Verbindung mit uns damit begonnen, daß Sie die französischen Geschützzeichnungen stahlen. Und dabei wurden Sie selbst erwischt. Das muß für unsere Regierung recht unangenehm gewesen sein. Sie scheinen mir nicht sonderlich geschickt.«
Herr Verloc versuchte einige heisere Entschuldigungen.
»Wie ich Gelegenheit hatte, vorher zu bemerken, war es die unglückliche Neigung zu einer unwürdigen – –«
Herr Vladimir hob eine große, weiße, plumpe Hand: »O ja, eine verfehlte Verbindung Ihrer Jugendjahre. Sie nahm das Geld und verkaufte Sie dann der Polizei, wie?«
Der schmerzliche Wechsel in Herrn Verlocs Zügen, das plötzliche Zusammensinken seiner ganzen Persönlichkeit bildeten das Eingeständnis, daß der bedauerliche Fall tatsächlich so lag. Herrn Vladimirs Hand umspannte den Knöchel, der auf seinem Knie lag. Die Socken waren von dunkelblauer Seide. »Das war nun nicht übermäßig schlau. Sie sind vielleicht allzu leicht erregbar.«
Herr Verloc wandte in gedämpftem Kehllaut ein, daß er nicht mehr jung sei.
»Oh, das ist ein Fehler, der mit dem Alter nicht besser wird«, bemerkte Herr Vladimir mit unangenehmer Leutseligkeit. »Aber nein, Sie sind eigentlich zu fett dazu, Sie hätten es nie zu diesem Aussehen bringen können, wenn Sie überhaupt erregbar wären. Ich will Ihnen meine Meinung sagen: Sie sind ein Faulpelz! – Wie lange beziehen Sie schon Gehalt von dieser Gesandtschaft?«
»Elf Jahre«, war die Antwort, nach einem Augenblick störrischen Zögerns. »Ich war mit mehreren Sendungen nach London betraut, während seine Exzellenz Baron Stott-Wartenheim noch Gesandter in Paris war; dann übersiedelte ich auf Weisung Seiner Exzellenz nach London. Ich bin Engländer.«
»Oh! sind Sie das, so?«
»Ein geborener englischer Untertan,« sagte Herr Verloc, nicht ohne Festigkeit, »doch mein Vater war Franzose und so –«
»Schenken Sie sich die Erklärung,« unterbrach der andere, »Sie könnten Marschall von Frankreich und Parlamentsmitglied von England sein – und dann vielleicht von einigem Nutzen für unsere Gesandtschaft.«
Dieser Scherz rief den Schatten eines Lächelns auf Herrn Verlocs Gesicht hervor. Herr Vladimir bewahrte unerschütterlichen Ernst.
»Aber, wie gesagt, Sie sind ein Faulpelz, Sie nützen Ihre Fähigkeiten nicht aus. Zu den Zeiten des Barons Stott-Wartenheim liefen eine Menge Schwachköpfe hier bei uns herum. Die brachten dann Burschen Ihrer Art zu einer ganz falschen Auffassung von dem Wesen eines Geheimfonds. Ich habe nun die Pflicht, dieses Mißverständnis aufzuklären, durch die Feststellung, was der Geheimdienst nicht ist. Er ist keine Wohltätigkeitsanstalt. Ich habe Sie eigens kommen lassen, um Ihnen das zu sagen.«
Herr Vladimir bemerkte den Ausdruck peinlicher Verwunderung auf Herrn Verlocs Gesicht und lächelte höhnisch.
»Ich sehe, daß Sie mich vollkommen verstehen. Ich glaube, daß Sie für Ihren Beruf doch klug genug sind. Was wir nun wünschen, ist Tätigkeit – Tätigkeit.« Während er diese letzten Worte wiederholte, legte Herr Vladimir einen langen weißen Zeigefinger auf die Ecke des Tisches. Aus Verlocs Stimme schwand jede Spur von Heiserkeit. Der fette Wulst in seinem Nacken leuchtete scharlachrot über dem Samtkragen des Überziehers. Seine Lippen zitterten, bevor sie sich weit öffneten.
»Wenn Sie nur die Freundlichkeit haben würden, meine Meldungen anzusehen,« dröhnte er in seinem mächtigen, klaren Rednerbaß, »so würden Sie bemerken, daß ich erst vor einigen Monaten eine Warnung einschickte, bei Gelegenheit des Besuches des Großherzogs Romuald in Paris; diese Warnung wurde von hier an die französische Polizei telegraphiert und …«
»Pst, Pst«, unterbrach Herr Vladimir stirnrunzelnd. »Die französische Polizei hatte keine Verwendung für Ihre Warnung. Brüllen Sie nicht so! Was zum Teufel denken Sie sich?«
Mit einem Untertone bescheidenen Selbstbewußtseins entschuldigte sich Herr Verloc, daß er sich vergessen habe. Seine Stimme, sagte er, seit Jahren berühmt in Arbeiterversammlungen unter freiem Himmel und in großen Sälen, habe mitgeholfen, seinen Ruf als guter und vertrauenswürdiger Genosse zu begründen. Sie bildete demnach einen Teil seiner Brauchbarkeit. Sie hatte Vertrauen zu seinen Grundsätzen erweckt. »Ich wurde in kritischen Momenten immer von den Führern aufgefordert, zu sprechen«, erklärte Herr Verloc mit offenbarer Genugtuung. Es gebe keinen Lärm, so fügte er hinzu, den er nicht übertönen könne; und plötzlich entschloß er sich zu einem Beweis.
»Sie erlauben«, sagte er mit gesenkter Stimme, ohne aufzusehen; rasch und gewichtig durchquerte er das Zimmer, bis zu einem der französischen Fenster. Wie unter einem unerklärlichen Zwang öffnete er es ein wenig. Herr Vladimir sprang verblüfft aus dem tiefen Armstuhl auf und sah ihm über die Schulter. Tief unten, jenseits des Hofes der Gesandtschaft, noch weit außerhalb des offenen Tores, war der breite Rücken eines Schutzmannes zu sehen, der in guter Ruhe dem überlebensgroßen Kinderwagen eines reichen Säuglings zusah, wie er prunkhaft über den Platz gerollt wurde.
»Schutzmann«, sagte Herr Verloc, ohne mehr Anstrengung, als wenn er geflüstert hätte, und Herr Vladimir lachte auf, als er sah, daß der Schutzmann wie gestochen herumfuhr. Herr Verloc schloß ruhig das Fenster und kehrte in die Mitte des Zimmers zurück.
»Mit einer solchen Stimme«, sagte er und setzte den heiseren Gesprächsdämpfer auf, »fand ich natürlich Vertrauen. Auch wußte ich, was ich zu sagen hatte.«
Herr Vladimir richtete an seinem Selbstbinder und beobachtete ihn in dem Spiegel über dem Kamin.
»Ich kann wohl sagen, daß Sie den revolutionären Sprachschatz hinlänglich im Kopf haben«, meinte er verächtlich. »Vox et … Sie haben nie Latein studiert, oder?«
»Nein,« grunzte Herr Verloc, »das konnten Sie wohl auch nicht von mir erwarten! Ich gehöre zu der Million. Wer versteht Latein? Nur ein paar Hundert Trottel, die sich selbst nicht zu helfen wissen.«
Herr Vladimir studierte noch dreißig Sekunden länger im Spiegel das fleischige Profil und den mächtigen Leib des Mannes hinter ihm. Zur selben Zeit hatte er den Vorzug, seine eigenen Züge zu betrachten,