Sein Erinnerungsvermögen ist nicht besonders gut, doch aus irgendeinem Grund kann er sich, wann immer er ein Ding dreht, alles ganz eindrücklich vor Augen rufen. So war es schon immer, sein ganzes Leben lang. Die Vergehen spielen sich hinterher noch tagelang, mitunter sogar über Wochen hinweg in seinem Kopf ab, so deutlich wie ein Film. An diesem düsteren, trostlosen Spätnachmittag lässt er die jüngste Aktion noch einmal Revue passieren, den Überfall auf ein Spirituosengeschäft am Abend zuvor. Die Bedienung war ein Mädchen Mitte zwanzig mit einem Stirnband, zu stark geschminkten Augen und großen Ohrringen aus Silber in einer viel zu engen Jeans und einem Sweatshirt mit einem aufgedruckten Kätzchen, das eine Flinte hielt, und darüber stand der Spruch: »Eine kleine Mieze tut niemandem weh«. Sie flippte aus, kaum, dass er eingetreten war. So wie manche es eben tun, wenn sich ein Mann wie Luke Thompson eine Skimaske über das Gesicht zieht, ihr Lokal hochnimmt und sie dabei mit einer Schusswaffe bedroht, begann auch sie sofort, um Gnade zu flehen und ihm ihre ganze Lebensgeschichte vorzubeten. So erfuhr er zum Beispiel innerhalb von dreißig Sekunden von ihren beiden Kindern und ihrem Freund, der seine Arbeit verloren und ein Alkoholproblem habe, von ihren zwei Jobs und einem Onlinestudium, das sie an ihren freien Abenden vorantreibe, und dazu noch, dass sie diesen Mist hier in ihrem Leben nicht auch noch gebrauchen könne. »Nehmen Sie einfach das Geld oder was auch immer Sie sonst wollen, denn es ist mir wirklich – ganz im Ernst – scheißegal, bloß tun Sie mir bitte nicht weh.«
Luke hatte ihr daraufhin eine kleine Stofftasche zugeworfen und ihr in seinem bedrohlichsten Tonfall befohlen, das Geld aus der Registrierkasse so schnell wie möglich hineinzustecken, oder aber er würde ihr die Rübe wegblasen. »Wenn du deine Kids je wiedersehen willst, dann beeilst du dich besser verdammt noch mal.«
Er erinnert sich daran, dass ihre drallen Brüste unter dem Sweatshirt gewackelt hatten, während sie die Scheine in die Tasche stopfte, sodass das Kätzchen mit der Flinte in Bewegung geriet und ebenfalls hüpfte. Ihr Lidstrich verlief, als er nass wurde von ihren Tränen, und er als schwarze Schlieren an ihren Wangen hinunterlief. Außerdem erinnert er sich an sein schlechtes Gewissen, denn Luke hasst es, Frauen auszurauben.
Zur falschen Zeit am falschen Ort, es ist nichts Persönliches.
Sobald die Tasche voll war, warf er einen kurzen Blick über seine Schulter auf den Parkplatz. Nachdem er festgestellt hatte, dass sich draußen niemand aufhielt, wies er mit seiner Pistole auf die Beobachtungskamera über der Theke und verlangte das Band. Zitternd nahm die junge Frau es aus dem Aufnahmegerät unter der Kasse und gab es ihm.
»Hör endlich auf, zu flennen.« Er steckte die Kassette ebenfalls in die Tasche, zählte rasch hundert Dollar in Zwanzigern von dem Stoß Scheine ab, die er gerade von ihr bekommen hatte, und warf sie ihr auf die Theke. »Steck das für dich ein und kauf deinen Kids etwas davon. Niemand wird es erfahren.«
»Soll das ein Scherz sein?«
Als er aufbrach, wurde die Furcht zur Verwirrung und schließlich zu Heiterkeit.
Der Eindruck von dem Mädchen, wie es das Geld nimmt, verwandelt sich in eine Vision von Rachel, die am Fuß des Bettes steht und ihn finster anschaut, in ihrer gemeinsamen Wohnung, die verwahrlost war und eine gründliche Säuberung bitter nötig hatte. Rachel trägt ihre Arbeitskluft. Sie hatte immer ihr Bestes gegeben und versucht, den Job als Sekretärin zu behalten, während Luke getan hatte, was er auch jetzt noch treibt … krumme Dinger drehen, sich um eine satte Beute bemühen … ständig ganz kurz vor dem einen großen Coup sein, der ihre Leben verändern und alles geradebiegen würde. Als müder Ritter in glanzloser, zerbeulter Rüstung auf der Jagd nach Drachen, die nicht existieren, beziehungsweise einem Heiligen Gral, der dazu bestimmt ist, verschleiert im Traumnebel zu bleiben, führt er einen aussichtslosen Kreuzzug. Das weiß er natürlich, insgeheim ist es ihm schon immer bewusst gewesen.
Mittlerweile hat aber auch Rachel es erkannt und den Glauben an ihn verloren. Er ist ihr abhandengekommen, und Luke hatte somit jede bis dahin noch vorhandene Chance auf Wiedergutmachung verloren.
»Du hattest die Möglichkeit, ein redliches Leben zu führen, und hast es nicht gekonnt.«
Als er die Pfützen zu seinen Füßen betrachtet, spiegelt sich sein Gesicht darin wider und starrt ihm mit ausdruckslosen leeren Augen entgegen.
»Du konntest keiner regelmäßigen Arbeit nachgehen. Ich habe mir den Arsch aufgerissen, aber wir haben trotzdem nichts besessen.«
»Rachel, ich …«
»Es ist endgültig vorbei. Ich habe genug, das meine ich ernst. Für so etwas bin ich einfach zu alt.«
»Ich kriege es wieder hin. Gib mir nur eine Chance, es wieder glattzubügeln, dann tue ich es.«
»Dazu hattest du fünf Jahre lang Zeit. Du bist jetzt fünfunddreißig und läufst immer noch herum wie ein Penner. Nicht lange, dann sitzt du wieder im Knast, und das stehe ich bestimmt nicht noch einmal durch. Ich kann es nicht, ich werde nicht wieder auf dich warten. Ich bin fertig damit. Ich liebe dich, aber das schaffe ich einfach nicht mehr.«
Er schließt die Augen. Sie hält ihren Arm hoch, damit er ihr Handgelenk sehen kann.
»Wo ist meine Uhr? Du hast sie verpfändet, oder? Einfach verzockt, ist es nicht so? Ich habe sie zu unserem Jahrestag von dir bekommen. Was war sie wert: Fünfzig Kröten? Mir hat sie mehr als das bedeutet, und ich dachte, das sei bei dir auch so. Dennoch willst du, dass ich schwanger werde. Du erwartest ernsthaft, dass ich bei all dem Elend ein Kind in die Welt setze?«
»Lass mich doch erklären, ich …«
»Ich höre mir deine Erklärungen nun schon seit Jahren an. Es reicht langsam.«
»Rachel, ich liebe dich. Baby, nicht …«
»Du liebst mich nicht, denn du liebst niemanden. Du weißt gar nicht wie.«
Ihr Gesicht bleibt für immer hinter seinen Augen eingebrannt. Er ist untröstlich.
»Wenn ich von der Arbeit zurückkomme, ziehe ich aus. Dieses Mal kannst du dich darauf verlassen.«
Bis zu dem Moment, als sie mit einem Koffer in der Hand hinausging, hatte er nicht geglaubt, dass sie es wirklich durchziehen würde.
Jetzt hier im Regen und weit weg von zu Hause, weiß er plötzlich, dass es kein Zurück und keine weiteren Chancen mehr gibt. Sein Leben – Rachel – ist nun vertan. Nichts davon wird je wiederkommen. Er war in New York aufgebrochen und bis in den Westen von Massachusetts gelangt. Vielleicht fährt er nun hoch nach New Hampshire oder stiehlt sich sogar durch bis nach Kanada.
Aber das alles spielt keine Rolle mehr. Er hat die letzte Etappe erreicht, das ist ihm klar. Was seinen Tod betrifft, so stellt er sich keine Fragen mehr nach dem Ob, sondern nur noch nach dem Wie. Als Kind hatte man Luke wiederholt in Jugendvollzugsanstalten gesteckt; als Erwachsener saß er zahlreiche Freiheitsstrafen in Bezirksknästen und sogar zwei in Staatsgefängnissen ab, einmal drei Jahre und dann sechzehn Monate. Jetzt ist er allerdings schon seit über drei Jahren nicht mehr inhaftiert worden. Aber Rachel hat recht … früher oder später wird es wieder geschehen. Als es noch etwas gab, für das es sich heimzukehren lohnte – und im Übrigen überhaupt ein Heim – hatte stets die Hoffnung bestanden, dass er, sobald er seine Strafe verbüßt hatte und in Rachels Arme zurückgekehrt war, alles gut werden würde, und er die Dinge wieder ins Lot bringen und endlich das Richtige tun könnte. Aber das hätte jetzt keinen Zweck mehr, denn es ist endgültig aus, bloß dass es ihm jetzt fernliegt, erneut hinter Gittern zu landen. Luke Thompson wird sich nie mehr irgendwo einsperren lassen – außer in dem Sarg, in dem man ihn letzten Endes begräbt.
»Gehe mit wehenden Fahnen unter«, pflegte sein alter