»Bin gleich wieder zurück, Baby«, sagt der Mann und zeigt auf ein kleines Gebäude weiter unten auf dem Platz, in dem sich eine öffentliche Toilette befindet. »Muss mal eben für kleine Jungs.«
Das Mädchen lacht obligatorisch und wendet sich dann wieder dem Kanal zu, während er in Richtung der Klos stolziert.
Der Doc hält weiterhin seine Stellung. Zu dem Zeitpunkt, als er aufgeraucht, den Stummel fallengelassen und mit einem Fuß zertreten hat, ist der Mann im Gebäude verschwunden und er ist allein mit dem Mädchen. Er dreht sich um und sieht sie unumwunden an. Sie scheint seinen Blick auf sich zu spüren und wirft ihm einen befangenen Blick über ihre Schulter zu.
Dann lächelt sie. »Hey«, begrüßt sie ihn. Der Doc nickt, erwidert jedoch nichts, sondern betrachtet sie lediglich, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen.
»Was?«, fragt sie defensiv.
»Wie alt bist du?«
»Wie alt sind Sie denn?«
»Neunundvierzig.«
»Wow, älter als mein Dad.«
»Und dein Macker, ist der auch älter als dein Dad?«
»Jackie?« Sie lacht und schüttelt den Kopf. »Der ist doch nicht mein Macker.«
Der Doc schweigt wieder.
»Das geht Sie gar nichts an«, lässt sie ihn nun wissen.
Er schaut wieder auf das Wasser hinaus.
»Außerdem«, fügt sie hinzu, »bin ich schon neunzehn.«
»Erzähl das jemand anderem.«
»Was kümmert Sie das eigentlich?«
»Ich hatte auch einmal eine Tochter.«
»Na und?«
»Sie wäre jetzt ungefähr so alt wie du.«
Das Mädchen lächelt auf eine Art, die es für verführerisch hält, lehnt sich gegen das Geländer und verschränkt dabei die Arme vor seiner Brust. »Wie alt bin ich denn?«
»Fünfzehn.«
»Sechzehn«, berichtigt sie ihn trotzig, ehe sie, weil sie erkennt, dass er es ihr nicht abkauft, hinterher schiebt: »Na ja, jedenfalls in anderthalb Monaten.«
»Hast du ein Handy?«, fährt der Doc fort.
Nun schaut ihn das Mädchen empört an und fühlt sich offenbar sichtlich beleidigt. »Stellen Sie sich vor«, entgegnet es und hält ein Blackberry hoch, wie um es zu beweisen.
»Ruf jemanden an und sag, dass du abgeholt werden willst.«
Das beunruhigt sie, weshalb ihr das abfällige Grinsen vergeht. »Wieso?«
Der Doc wendet sich ab und nimmt den schmalen Weg zu den Toiletten. Während er geht, spürt er, dass das Mädchen ihn genau beobachtet, doch es folgt ihm nicht und spricht auch kein Wort mehr. Als er die Tür erreicht, hört er ein Pfeifen.
Das Männerklo ist relativ sauber und leer bis auf den trällernden Jackie, der sich gerade erleichtert hat und nun vor einem großen Spiegel steht. Er betrachtet sich darin und lächelt freudestrahlend, während er mit beiden Händen auf das Glas zeigt. »Klar doch, alter Freund, davon rede ich doch die ganze Zeit!«
Der Doc ist an der Tür stehen geblieben. Er nimmt die Brille ab, klappt die Bügel zusammen und steckt sie in seine Jackentasche.
»Wie geht's, wie steht's?«, fragt Jackie auf dem Weg zur Tür, bevor er kurz stockt und nervös wird, als er bemerkt, dass sein Gegenüber keine Anstalten macht, sich zu rühren. »Verzeihung.«
Aber der Doc tritt nicht zur Seite.
»Würden Sie mich mal vorbeilassen, Kumpel?«, verlangt der Mann jetzt kichernd, als seien sie beide alte Freunde. Er stinkt nach Schweiß und billigem Rasierwasser. Doch der Doc schüttelt ganz langsam den Kopf … nichts da.
Jackie grinst ihn an wie der Trottel, der er auch ist. »Wo liegt denn Ihr Problem, Kollege? Ich will nur rausgehen, okay?«
»Das Mädchen dort«, beginnt der Doc im gelassenen Tonfall.
»Ja? Was ist mit ihr?«
»Sie ist erst fünfzehn Jahre alt.«
»Was sind Sie, ein Bulle?« Jackie räuspert sich nervös, drückt seine Brust heraus und tritt auf der Stelle, während er sich fahrig an der Nase kratzt. »Entspannen Sie sich, ja? Ich bin bloß ihr Fußballtrainer und kenne ihre Eltern. Zu Hause hat sie es nicht leicht, also versuche ich nur, ihr ein bisschen zu helfen.« Er schafft es, jetzt wieder einen Teil seines großspurigen Gehabes hervorzukehren, indem er sich aufrichtet und breitbeinig hinstellt. »Offengestanden fühle ich mich von dem, was Sie mir da gerade unterstellen, auf den Schlips getreten, Sportsfreund. Ich bin verheiratet und habe selbst Kinder. Was das hier betrifft, versuche ich nur, einem Kind gegenüber nett und hilfsbereit zu sein, dem es nicht so gut geht.«
»Indem Sie es begrapschen?«
Jackie errötete daraufhin. »Was? Ich … das habe ich nicht getan. Ich habe sie nur in den … Sie meinen das da gerade eben draußen? Was fällt Ihnen ein? Ich habe sie in den Arm genommen, um Himmels willen, und nicht – wofür zum Geier halten Sie sich überhaupt, dass Sie mir hier Vorhaltungen machen? Machen Sie schleunigst Platz, Mann. Das ist doch Unsinn; ich muss nicht hier stehenbleiben und mir das alles anhören. Sie kennen mich doch gar nicht, und ich kenne Sie nicht. Verpissen Sie sich also, bevor es knallt, Väterchen.«
Fünf Minuten später befindet sich der Doc erneut auf dem Highway, fährt in Richtung Staatsgrenze und konzentriert sich wieder ganz auf sein Ziel. Der Spieler hat schon einen Vorsprung und ist bereits in Bewegung. Es gilt also, keine Zeit zu verlieren.
Mehrere Meilen hinter ihm auf einer Toilette am Cape Cod Canal liegt jetzt ein Fußballtrainer namens Jackie Hunt mit einem Hang zu jungen Mädchen auf den kalten Bodenkacheln in einer Lache aus seinem eigenen Blut, Urin und Kot, die gespickt ist mit seinen ausgeschlagenen Zähnen. Heulend hält er fest, was von seiner Nase noch übrig ist, und hofft dabei, dass man sie retten kann, sobald er es in die Notaufnahme schafft.
Der Doc fährt mit steinerner Miene weiter wie der alte Vagabund, der er geworden ist, lässt den Gedanken wieder los und über den Highway fortwehen, so wie alles andere, was hinter ihm zurückbleibt. Er legt eine Best of von Robert Johnson in den CD-Player. Rasch verliert er sich in den kratzigen, alten Blues-Aufnahmen, den spukhaften Gitarrenriffs sowie Johnsons ätherischer Stimme, die ihm aus der Vergangenheit heraus von Dämonen auf seinen Fersen kündet und ihn in eine andere Zeit und an einen anderen Ort locken möchte – und sei es nur für kurze Zeit – wo nichts von alledem eine Rolle spielt.
Vier
Der Regen ergießt sich in einem steten, dichten Strom über die Windschutzscheibe, und ungeachtet der Scheibenwischer lässt sich aufgrund des andauernden Wasserschleiers so gut wie gar nichts erkennen. Obwohl es erst später Nachmittag ist, vermitteln der dunkle Himmel und die kräftigen Schauer eher den Eindruck, es sei mitten in der Nacht, vor allem hier auf offener Strecke. Sehr komisches Wetter für diese Jahreszeit, denkt sie. Zuerst ist es sonnig und ruhig, doch im nächsten Moment schüttet es wie aus Kübeln, und gleich darauf fällt Schnee. Der Empfang des Radiosenders, auf dem gerade alte Songs aus den Achtzigern laufen, bricht ständig ab und wird immer schlechter, je weiter Greer fährt, und sie hat schon seit über zwanzig Minuten weder Scheinwerfer näherkommen noch im Rückspiegel welche gesehen. Nun drückt sie am Tuner den Knopf für den Sendersuchlauf und hofft dabei, ein Signal zu finden, das stark genug zum Beibehalten ist, doch die Digitalziffern überschlagen sich, während die Frequenzen immer