Mendel war vollständig geknickt, als Saul ihm den zum Herzen sprechenden Brief noch überdies mit tremulirender Stimme vordeklamirte. Er stürzte hinaus, lief geradenwegs zu Herrn Schönberg, in dessen Fabrik er beschäftigt war und bat um seinen Abschied.
»Was haben Sie denn?« fragte der Fabrikant, »weshalb wollen Sie denn fort? soll ich Ihnen den Gehalt aufbessern?«
»Nein, nein, Herr Schönberg, aber ich halte es nicht mehr in Gyöngös aus, ich muss nach Hort.«
»Nach Hort? Weshalb?«
Stumm reichte ihm Mendel den Brief.
Der Fabrikant las und lächelte. »Ein Teufelskerl, der Kalimann!« murmelte er, »an dem ist ein Romancier verdorben. Aber das wollen wir anders machen, Mendel. Sie bleiben bei mir und heirathen die Gütel. Ich gebe Ihnen eine kleine Wohnung im Fabriksgebäude, und Frau Barkany soll das Mädchen ausstatten.«
Mendel strahlte, am Liebsten hätte er den guten Schönberg umarmt. Dieser gab ihm gern Urlaub für einen Tag und der Glückliche eilte nach Hort in die Arme Gütel's. Wirklich entschloss sich Frau Barkany, ihre Köchin, die vom dreizehnten Jahre treu bei ihr gedient hatte, auszustatten, und zur fröhlichen Zeit der Weinlese wurde in Hort die Hochzeit gefeiert.
Oben an der Tafel, auf dem Ehrenplatz neben dem Rabbiner sass der Buchbinder von Hort. War doch alles sein Werk und es war nicht das erste Paar, das er vereint und das der Rabbiner gesegnet hatte.
Als die Reihe an ihn kam, einen Toast auf das Brautpaar auszubringen, erhob er sich, das Glas mit dem perlenden Wein in der Hand und sprach die Verse Schiller's:
Ehret die Frauen, sie flechten und weben,
Himmlische Rosen in's irdische Leben.
Rabbi Abdon.
– RUSSLAND. –
Die Kabbalah. – Der Jude als Ackerbauer.
Die Sonne war untergegangen. Die Nebel des düsteren Winterabends breiteten sich langsam um die Thürme und Dächer der kleinen Stadt, welche tief im Süden Russlands zwischen wilden Waldrevieren, Sümpfen und Steppen verloren war. Der Sturm hatte überdies hohe Schneewälle aufgeführt, welche die Menschen in ihren kleinen hölzernen Häusern gefangen hielten. Im letzten Abendstrahl schienen die Frostblumen an den kleinen Fenstern noch einmal in den Farben des Frühlings aufzublühen.
Dann erlosch auch dieser armselige Schimmer und graue eintönige Dämmerung erfüllte das weite Gemach, in dem der greise Rabbi Abdon sass, vertieft in seltsame Gedanken und Erinnerungen.
Die alte Magd kam leise herein, zündete die Lampe an und verschwand wieder unbemerkt, wie sie gekommen. Der Rabbi regte sich keinen Augenblick. Das flackernde Licht tauchte all' die heiligen und geheimnissvollen Dinge, die ihn umgaben, die Gesetzrollen, die Lederbände des Talmud, den Sochar, das Buch des Glanzes und den Ilan, den Baum des Lebens, an der Wand in eine Art Verklärung, aber der Greis sah sie heute nicht. Sein hagerer Körper, in sich zusammengesunken, schien leblos, sein mit Runzeln bedecktes Antlitz erstarrt, nur die grossen Augen verriethen, dass sein Geist noch nicht entflohen war.
Er fragte sich in diesem Augenblick, warum er noch lebe? Er hatte ein gottesfürchtiges tadelloses Leben hinter sich, und er hatte alle Geheimnisse der Kabbalah erschlossen, ihn erwartete die Seligkeit der Frommen und der grosse Lohn, welcher jedem zugesagt ist, der sich mit der Wissenschaft beschäftigt, die Gott selbst dem Adam überliefert haben soll. Was half ihm aber seine Frömmigkeit? was half ihm sein Wissen. Er war allein, einsam in einer Welt, die er nicht verstand, und die ihn nicht verstand, verlassen, ohne Liebe, unter Menschen, die ihm nur mit heiliger Scheu und Ehrfurcht nahten.
Was nützten ihm am Rande des Grabes Gematria, Notarikon und Themurah, die Lehre, mit deren Hilfe man den geheimen Sinn entziffert, den Gott in die heilige Schrift gelegt? Was nützte es ihm, dass er in stillen Nächten den Urquell des Lichtes, des Geistes und des Lebens, den Verborgendsten der Verborgenheiten wie hinter einem Schleier sah? dass er im Menschen die Welt im Kleinen wie in einem Zauberspiegel betrachten konnte? dass er mit den zehn Sephirot und den vier Welten vertraut war, dass die Engel bei ihm aus- und eingingen? Wozu diente ihm seine Macht über die Geister und Dämonen? Er konnte Samael und Aschmadin bannen, wenn er wollte und die schöne Lillith zwingen seinen Geboten zu gehorchen, aber er war machtlos gegen den Nebel, der sich um ihn zu Gestalten zusammenballte, gegen die Stimmen, die in der Stille des Abends heimlich zu flüstern begannen.
Ja, er war allein mit seinen todten Schätzen, und er hatte doch einst ein geliebtes Weib gehabt, schön und tugendsam, und einen Sohn – ja dieser Sohn – wo war er? lebte er noch? oder war er geschieden von der Erde wie seine Mutter?
Sie war ein stilles, reizendes Geschöpf, diese kleine Frau, die schlank und scheu wie ein Reh durch seine Zimmer schlüpfte, wenn er in seine Folianten versunken war. Selten nur stahl sich ihr Lächeln wie Mondlicht in seine Seele, meist beachtete er sie gar nicht. Vergebens schmückte sie ihre anmuthigen Glieder, vergebens liess sie ihre helle Stimme, ihr verschämtes Lachen in diesem finstern Raum ertönen, in dem sich ein kleiner Menschengeist vermass die Pforten des Paradieses und der Hölle aufzureissen.
Und sie hatte ihn dennoch geliebt, aber einsam, mit ihrem armen, darbenden Herzen war sie zu früh dahingewelkt, und eines Tages lag sie mit ihrem letzten Lächeln auf den kalten Lippen da.
Er hatte sie verloren für immer.
Und jetzt! jetzt hätte er den kleinen Sammtpantoffel an ihrem Fusse küssen mögen, wenn er nur wieder einmal ihren leisen Schritt hätte vernehmen können inmitten dieser mit Staub und Moder bedeckten Welt, die ihn umgab.
Aber sein Sohn! Er lebte vielleicht noch, nur weit von ihm, sehr weit in der Ferne.
Er war sein ganzer Stolz gewesen. Er sollte nicht allein der Erbe seines Namens, aller seiner Habe werden, ein ungleich kostbareres, heiliges Vermächtniss wollte er ihm hinterlassen, seine ganze Weisheit, das Gold der Wissenschaft, das er aufgespeichert, alle Geheimnisse, die ihm die Zauberkraft der Kabbalah aufgeschlossen hatte, und er hatte dies alles verschmäht um eines thörichten Mädchens, um einiger grünen Bäume und um eines Feldes voll reifender Aehren willen.
Zum Rabbiner war er bestimmt, der kleine Simon, aber er liebte die Stubenluft nicht. Wenn der erste Sonnenstrahl auf den Lederband fiel, vor dem er sass, war es wie ein goldener Faden von Feenhand gewoben, der ihn hinauszog und hatte er erst diese schwarze Erde betreten, die der russische Bauer so zärtlich liebt, da fühlte er gleich diesem den Athem der treuen unwandelbaren Freundin, der einzigen, die uns jede Sorgfalt, jeden Dienst tausendfach zurückgiebt, da hörte er in den säuselnden Halmen, in den rauschenden Blättern die geheimnissvolle Stimme der ewigen Mutter.
»O! ich kenne ein schöneres Buch«, sprach er dann zu seinem Vater, auf den Talmud deutend, »das hat Gott selbst geschrieben, darin ist der grüne Wald zu sehen und Sonne, Mond und Sterne.«
Wenn die Bauern ackerten, folgte er von Ferne gleich den Krähen ihrem Pfluge, und wenn die Sicheln zur Erntezeit erklangen, verbarg er sich hinter den Garben und weinte.
Rabbi Abdon hatte ihn schon als Kind verlobt mit der Tochter eines reichen Mannes, von gleich edlem Stamme, des Kaufherrn Jonathan Ben Levy in Amsterdam, dessen Schiffe bis nach Indien segelten.
Als Simon aber herangewachsen war, nahm eine Andere sein Herz gefangen.
Es war ein armes Mädchen, Darka Bariloff. Ihre Eltern besassen eine elende Schenke in der Vorstadt draussen und einen kleinen Acker.
Auf