Im Garten war es dunkel. Ob tatsächlich jemand in der Finsternis stand, vermochte Molly nicht mit Sicherheit zu sagen.
Sie löschte das Licht und näherte sich mit kleinen Schritten dem Fenster. Steht dort ein Mann oder eine Frau?, ging es ihr durch den Sinn. Kann das Christopher Murphy sein? Hat er nicht verstanden, dass ich nichts von ihm wissen will? Ist er nicht bereit, das zu akzeptieren?
Molly Stone erreichte mit erhöhtem Pulsschlag das breite Fenster. Ihr Gesicht kam dem Glas so nahe, dass ihre kleine Nase es fast berührte. Die gruselige Gestalt, die sie zu sehen glaubte, rührte sich nicht von der Stelle. Sie war schwarz gekleidet und verschmolz buchstäblich mit der Dunkelheit, hatte keine klar erkennbaren Konturen, konnte sowohl dick als auch dünn sein.
Die Figur des unheimlichen »Geistes« grenzte sich von der Finsternis nicht ab, sondern löste sich allem Anschein nach einfach in ihr auf. Für Molly war diese mysteriöse Wahrnehmung so beklemmend, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken rieselte.
Was soll ich tun?, fragte sich die junge Frau. Warten, bis dieses furchterregende Gespenst genug vom Herumstehen hat und von selbst verschwindet? Oder soll ich es verjagen? Habe ich so viel Courage, um das zu tun?
Sie dachte an den Feuerhaken, mit dem sie sich schon einmal bewaffnet hatte. Doch dann hatte sie eine andere Idee. »Polizei«, flüsterte sie. »Ja, klar. Ich rufe die Polizei an. Sie soll herkommen und mich von dieser unerträglichen Plage, diesem lästigen Gespenst, diesem gruseligen Albtraum befreien. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Wir berappen schließlich einiges für unsere Sicherheit. Die sollen diesen unheimlichen Kerl kassieren, fortschaffen und einsperren. Das darf ich verlangen. Das kann ich als Steuerzahlerin von der Polizei erwarten.«
Sie ging zum Telefon, nahm den Hörer ab und wählte. Eine schnarrende Männerstimme meldete sich – viel zu schnell. Molly war innerlich noch nicht soweit, mit dem Beamten zu sprechen, ihm klarzumachen, weshalb sie anrief und was sie von der Polizei erwartete.
»Hallo«, sagte die Männerstimme.
»Ja … Ich … Äh …«, stammelte Molly.
Der Beamte fragte nach dem Grund ihres Anrufs.
Molly brachte noch immer keinen vernünftigen Satz zustande.
»Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?«, sagte der Beamte.
»Meinen … Namen …«
»Ja, wie heißen Sie?«
Stone, dachte Molly. Ich heiße Molly Stone, und ich werde belästigt. Vor meinem Fenster steht eine furchterregende Gestalt. Regungslos. Ich weiß nicht, wie lange schon. Können Sie jemanden herschicken, der den Unbekannten festnimmt und fortbringt? Ich fühle mich von diesem unheimlichen Kerl bedroht und habe Angst.
Das dachte sie, und das wollte sie auch sagen, aber sie tat es nicht, weil ihre Kehle so sehr zugeschnürt war, dass sie kein Wort herausbrachte.
»Miss?«, kam die schnarrende Stimme durch die Leitung.
Sie wollte antworten, blieb aber stumm.
»Miss!«
Sie schaute zum Fenster und sah … Niemanden mehr. Der Spuk war verschwunden. Der Unheimliche hatte seinen Beobachtungsposten verlassen. Was sollte Molly dem Beamten nun sagen?
»Ent-entschuldigen-schuldigen Sie«, kam es abgehackt über ihre Lippen. »Tut-tut mir leid … Die Sache hat sich erledigt.« Sie legte rasch auf und wischte ihre feuchten Handflächen an den Schenkeln trocken.
*
Tags darauf schien Hetty Page furchtbar viel zu tun zu haben. Oder tat sie bloß so? Molly hatte das Gefühl, die Kollegin würde ihr aus dem Weg gehen.
Weißt du was, Molly Stone?, sprach eine innere Stimme zu ihr. Du leidest an Paranoia. Keiner mag dich. Die ganze Welt will dir Böses. Ein hässliches Komplott ist gegen dich im Gange, und alle sind daran beteiligt. Ob es sich nun um Jonah Daglow, Hank Braddock, Harry Baxter, Christopher Murphy oder Hetty Page handelt, alle haben sich gegen dich verschworen. Jedenfalls bildest du dir das ein. Vielleicht solltest du dich mal bei einem Psychiater auf die Couch legen. Du fühlst dich belauert, beobachtet und verfolgt, belästigst grundlos die Polizei …
Grundlos?, widersprach Molly im Geist. Sie ärgerte sich. Schließlich hatte sie sehr wohl einen Grund gehabt, die Polizei anzurufen. Oder hatte gestern Abend etwa niemand im finsteren Garten vor dem Fenster gestanden?
Der Vormittag gestaltete sich dann auch für sie sehr arbeitsreich, und das war ganz gut so, weil sie dadurch keine Zeit zum Grübeln hatte.
Kurz vor zwölf Uhr landete per E-Mail eine Powerpoint-Präsentation in ihrem elektronischen Briefkasten. Sie kannte den Absender nicht.
Er nannte sich »Amigo». Aber war er das wirklich? Ein Freund? Nach einem kurzen Klick war klar, dass er das nicht war.
Freunde versenden nicht solche Mails, durchfuhr es Molly, während sie gebannt auf den Bildschirm starrte. Jedes gestochen scharfe Foto, das sie sah, war ein übler Schock für sie, ein Stachel, der sich schmerzhaft tief in ihr Herz bohrte.
Mit einem Mal war ihr klar, warum ihr Hetty Page aus dem Weg ging und ihr nicht in die Augen sehen konnte. Die falsche rothaarige, blasshäutige, sommersprossige, übergewichtige Schlange hatte sich an Harry Baxter herangemacht, und die Bilder, die nacheinander auf dem Monitor erschienen, bewiesen auf eine höchst unmissverständliche Weise, dass ihm das ganz und gar nicht unangenehm war.
Das ging aber schnell, dachte Molly zutiefst enttäuscht. Vor ganz kurzer Zeit sagte Harry noch, er würde mich so sehr lieben, dass er am liebsten jeden töten würde, der mich auch nur ansieht. Wenn ich ihn jemals verlassen würde, würde er sich umbringen. Und einige lächerlich wenige Stunden später vergnügt er sich bereits mit Hetty Page. Als Molly die quälenden Bilder nicht mehr ertragen konnte, schaltete sie den Computer aus.
Sie zitterte heftig und hatte Mühe, nicht hemmungslos loszuheulen. Und da hatte Hetty Page auf einmal – es war nicht zu fassen – die Unverfrorenheit, sie zu fragen, ob sie daran interessiert wäre, sich mit ihr eine Pizza von »Al Forno« zu teilen.
Eine »Mafia-Torte«, wie sie scherzhaft sagte. Als ob Molly jetzt einen Bissen von irgendwas runtergebracht hätte. Nicht einmal einen Babybrei hätte sie im Moment schlucken und im überreizten Magen behalten können.
»Ich esse heute nichts«, sagte Molly steif.
»Fühlst du dich nicht wohl?«
Falsches Luder, was soll das scheinheilige Getue?, dachte Molly wütend. Ich weiß über dich und Harry Bescheid und würde dir am liebsten die Augen auskratzen. Wie konntest du nur? Ich dachte, du wärst meine Freundin. Aber wenn du einen Mann haben willst, zählt das wohl nicht.
Hetty lachte ein wenig unsicher. »Meine Güte, du siehst mich an, als wolltest du mir etwas antun.«
»Entschuldige«, murmelte Molly.
Hetty runzelte die Stirn. »Ist alles in Ordnung?«
Ja, alles bestens, dachte Molly gallig. Der Mann, in den ich mich unsterblich verliebt habe, will nichts mehr von mir wissen und amüsiert sich im Handumdrehen köstlich mit einem rothaarigen, ehrlosen Flittchen, das ich für eine gute Freundin gehalten habe. Wenn das kein Grund ist, glücklich und zufrieden zu sein.
Jonah Daglow kam vorbei, bat Molly in sein Büro und ersparte ihr damit, auf Hettys Frage zu antworten. Molly ließ das Mittagessen tatsächlich ausfallen. Magenkrämpfe machten ihr so schwer zu schaffen, dass sie am liebsten nach Hause gegangen wäre. Hetty ließ sie in Ruhe.
Ob sie weiß, dass ich es weiß?, fragte sich Molly. Wenn ja, dann ist es ihr allem Anschein nach nicht im Mindesten unangenehm, und sie zeigt auch keinerlei Reue. Diese schäbige, moralisch völlig verkommene Person lässt überhaupt kein schlechtes Gewissen erkennen. Ich hätte nicht gedacht, dass du dermaßen abgebrüht bist, Hetty Page. Schäm dich. Wie kann man nur so charakterlos sein?
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