Sie trat vor den großen Spiegel, der neben dem Fenster an der Wand hing, und betrachtete sich besorgt. »Was ist mit dir nicht in Ordnung, Molly Stone?«, fragte sie ihr Spiegelbild mit bangem Herzen. »Hast du einen Grund, an deinem Verstand zu zweifeln?« Sie trat näher und schaute sich tief in die Augen. »Was hast du mit Johnny gemacht, Molly? Wieso ist er nicht hier? Hast du deinem geliebten Kater etwas angetan?« Sie drehte sich erschrocken um. »Großer Gott, was denke ich denn da?«, stieß sie mit belegter Stimme hervor.
*
Harry kam, und sein Begrüßungskuss fiel sehr oberflächlich aus. Ohne Liebe. Ohne Leidenschaft. An Flüchtigkeit kaum zu überbieten.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Molly.
»Ich mit dir auch«, gab er trocken zurück.
»Worüber?«
»Später. Und nicht hier.«
Warum tut er so geheimnisvoll?, fragte sich Molly. Hat sein verändertes Benehmen mit mir zu tun? Habe ich etwas angestellt, ohne es zu wissen? Allmächtiger, wieso bin ich auf einmal so unsicher? Wo ist mein gesundes Selbstbewusstsein hingekommen?
Harry forderte sie auf, ihm zu sagen, was sie loswerden wollte, und sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Jonah Daglow.
Als sie ihn dann fragte, ob er hinter ihrem Rücken mit Hank Braddock gesprochen habe, fragte er zurück: »Warum hätte ich das tun sollen?«
»Hast du?«, hakte sie energisch nach.
»Nein«, antwortete er ebenso energisch. »Natürlich nicht. Ich weiß doch, dass du dich bei ›Modol‹ wohl fühlst und nicht weg willst.«
Molly kniff die Augen zusammen. »Wieso erzählt Braddock meinem Chef dann, du hättest …«
»Was weiß ich«, fiel Harry ihr scharf ins Wort. »Keine Ahnung. Frag Braddock. Ich habe mit der Sache jedenfalls mit Sicherheit nichts zu tun.«
Die Situation zwischen ihnen war noch nie so angespannt gewesen. Molly bedauerte das sehr. Dennoch hätte sie Harry am liebsten nach Hause geschickt.
Er war erregt. Sie war gereizt. Es bestand auf beiden Seiten die Gefahr, dass Worte fielen, die besser nicht ausgesprochen wurden.
»War’s das?«, erkundigte er sich spröde. »Bist du fertig?«
Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben konnte. Vielleicht hatte er doch mit Braddock gesprochen, getraute sich aber nun nicht, es zuzugeben.
»Können wir losfahren?«, wollte er wissen.
Sie nickte. Er verließ mit ihr das Haus. Auf dem Motorrad lagen zwei Sturzhelme. Ehe Molly ihren aufsetzte, wollte sie wissen, auf welche Weise der Sprayer die Windschutzscheibe von Harrys Wagen verunreinigt hatte.
»Er hat mit dicken, fetten Lettern ein Wort draufgesprüht«, erklärte Harry ausweichend.
»Was für ein Wort?«
Harry wollte es nicht sagen. »Ein hässliches«, antwortete er nur.
»Welches?«, bohrte Molly weiter.
»Das F-Wort«, knurrte Harry. Er sah sie an, und sein ärgerlicher Blick fragte: »Bist du jetzt zufrieden?«
»Warum?«, fragte Molly.
Harry zog die Schultern hoch. »Wenn ich ihn sehe, frage ich ihn«, gab er zur Antwort. »Aber zuvor kriegt er ein paar kräftige Backpfeifen von mir.« Er schwang sich auf das Motorrad. »Steig auf.«
»Wohin fahren wir?«, wollte Molly wissen.
»Ist nicht weit.«
Sie stülpte den Sturzhelm über ihren Kopf und setzte sich hinter Harry auf die Maschine. Er fuhr tatsächlich nicht weit. Nach gefühlten zehn Minuten waren sie da. Harrys Ziel war eine Siedlung mit Reihenhäusern.
Allesamt noch Rohbauten mit Baggern, Walzen, Sandhaufen, Backsteinen, Schalungsbrettern, Zement-Silos und dergleichen mehr davor.
Kein einziges Haus war fertig, doch irgendwann würden hier glückliche Familien einziehen, aber bis dahin würde noch einiges Wasser die Themse hinunterfließen. Molly fragte sich, warum Harry mit ihr hierher gefahren war. Sie stieg vom Motorrad und nahm den Helm ab. Harry bockte die Maschine auf und nahm seinen Helm ebenfalls ab. »Erstaunt?«, fragte er frostig.
Molly konnte sich nicht erklären, wieso. »Ich weiß nicht, was du meinst«, gab sie verstimmt zurück.
»Wirklich nicht?« Er glaubte ihr ganz offensichtlich nicht.
»Nein«, antwortete Molly spitz.
»Sag jetzt bloß nicht, du weißt nicht, wo wir sind«, knurrte Harry.
»Ich weiß es tatsächlich nicht.« Langsam ging ihr die verrückte Geschichte auf den Geist. »Was soll das, Harry?«, fragte sie ärgerlich. »Du bist so seltsam, benimmst dich so eigenartig.«
Er verzog spöttisch das Gesicht. Ein Ausdruck, den sie bei ihm noch nie gesehen hatte und den sie nicht ausstehen konnte.
»Ach, tu ich das?« Sein Blick wurde hart. »Wann hattest du vor, es mir zu sagen?«
»Was sagen?«
»Dass du eines dieser Reihenhäuser gekauft hast.«
Sie riss die Augen auf. »Was? Spinnst du?«
»Willst du etwa allein hier einziehen?«, fragte Harry böse. »Ohne mich? Oder mit einem andern?«
Sie brauste auf. »Herrgott noch mal, ich habe doch gar nicht das Geld, um…«
»Die Anzahlung hast du geleistet«, behauptete Harry.
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, ja?«
»Hast sie irgendwie zusammengekratzt«, blieb Harry bei seiner Behauptung. »Oder sie von jemandem bekommen. Geliehen. Geschenkt. Was weiß ich.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich hab’s Schwarz auf Weiß«, erklärte Harry mit erhobener Stimme. Wieder erschien dieser spöttische Ausdruck auf seinem Gesicht. Es war aber auch ein bisschen Bitterkeit dabei. »Da staunst du, was?« Er zauberte einen Brief aus der Innentasche seiner Lederweste, entfaltete ihn und begann laut zu lesen: »Sehr geehrte Miss Stone, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass sich Ihr Traum vom eigenen Heim im kommenden Jahr erfüllen wird und bestätigen dankend den Eingang Ihrer Anzahlung …«
»Gib her!«, sie riss ihm das Schreiben aus der Hand und überflog es mit glühenden Augen. Er hatte nichts erfunden. Da stand tatsächlich genau das, was er soeben vorgelesen hatte. Wort für Wort. Mit Firmenlogo und Unterschrift des zuständigen Managers.
Die Angelegenheit hatte nur einen Schönheitsfehler: Molly hatte bis zum heutigen Tag nichts von diesem Bauvorhaben gewusst. Oder … etwa doch? Sie wedelte mit dem Papier vor Harrys Gesicht. »Woher hast du das?«
»Jemand hat es mir durch den Briefschlitz meiner Wohnungstür zukommen lassen. Ich nehme an, es ist ein Duplikat und das Original ging an dich.«
»Es kann kein Original geben«, behauptete Molly hitzig. »Das ist ganz unmöglich.«
Harry verzog das Gesicht, als hätte er verdorbenen Fruchtsaft getrunken. »Ach bitte, Molly. Wir wollten doch immer ehrlich zueinander sein.«
Damit brachte er sie ziemlich auf die Palme. »Ich bin ehrlich«, schrie sie wütend.
Er zeigte auf das Schreiben in ihrer Hand. »Und was ist damit?«
Sie schien ihn mit ihrem Blick erdolchen zu wollen und kämpfte trotzig gegen ihre aufsteigenden Zornestränen an, denn sie war schwer enttäuscht von ihm. Doch er sollte sie nicht weinen sehen.
»Vertraust du mir nicht mehr?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Versetz dich mal in meine Lage«, verlangte Harry. »Würdest du mir …«
»Nun