Das Stunden-Buch. Rainer Maria Rilke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Maria Rilke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027210114
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fühle dich. An meiner Sinne Saum

      beginnst du zögernd, wie mit vielen Inseln,

      und deinen Augen, welche niemals blinseln,

      bin ich der Raum.

      Du bist nichtmehr inmitten deines Glanzes,

      wo alle Linien des Engeltanzes

      die Fernen dir verbrauchen wie Musik, du

      wohnst in deinem allerletzten Haus.

      Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus,

      weil ich mich sinnend dir verschwieg.

      Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht

      mit allen meinen Sinnen an dir branden?

      Meine Gefühle, welche Flügel fanden,

      umkreisen weiß dein Angesicht.

      Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht

      vor dir in einem Kleid aus Stille steht?

      Reift nicht mein mailiches Gebet

      an deinem Blicke wie an einem Baum?

      Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum.

      Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille

      und werde mächtig aller Herrlichkeit

      und runde mich wie eine Sternenstille

      über der wunderlichen Stadt der Zeit.

      Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,

      darin du mich so eilen siehst.

      Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,

      ich bin nur einer meiner vielen Munde

      und jener, welcher sich am frühsten schließt.

      Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,

      die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:

      denn der Ton Tod will sich erhöhn –

      Aber im dunklen Intervall versöhnen

      sich beide zitternd.

      Und das Lied bleibt: schön.

      Wenn ich gewachsen wäre irgendwo,

      wo leichtere Tage sind und schlanke Stunden,

      ich hätte dir ein großes Fest erfunden,

      und meine Hände hielten dich nicht so.

      wie sie dich manchmal halten, bang und hart.

      Dort hätte ich gewagt, dich zu vergeuden,

      du grenzenlose Gegenwart.

      Wie einen Ball

      hätt ich dich in alle wogenden Freuden

      hineingeschleudert, daß einer dich finge

      und deinem Fall

      mit hohen Händen entgegenspringe,

      du Ding der Dinge.

      Ich hätte dich wie eine Klinge

      blitzen lassen.

      Vom goldensten Ringe

      ließ ich dein Feuer umfassen,

      und er müßte mirs halten

      über die weißeste Hand.

      Gemalt hätt ich dich: nicht an die Wand,

      an den Himmel selber von Rand zu Rand,

      und hätt dich gebildet, wie ein Gigant

      dich bilden würde: als Berg, als Brand,

      als Samum, wachsend aus Wüstensand –

      oder

      es kann auch sein: ich fand

      dich einmal…

      Meine Freunde sind weit,

      ich höre kaum noch ihr Lachen schallen;

      und du: du bist aus dem Nest gefallen,

      bist ein junger Vogel mit gelben Krallen

      und großen Augen und tust mir leid.

      (Meine Hand ist dir viel zu breit.)

      Und ich heb mit dem Finger vom Quell einen Tropfen

      und lausche, ob du ihn lechzend langst,

      und ich fühle dein Herz und meines klopfen

      und beide aus Angst.

      Ich finde dich in allen diesen Dingen,

      denen ich gut und wie ein Bruder bin;

      als Samen sonnst du dich in den geringen

      und in den großen gibst du groß dich hin.

      Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,

      daß sie so dienend durch die Dinge gehn:

      in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte

      und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.

      Stimme eines jungen Bruders

      Ich verrinne, ich verrinne

      wie Sand, der durch Finger rinnt.

      Ich habe auf einmal so viele Sinne,

      die alle anders durstig sind.

      Ich fühle mich an hundert Stellen

      schwellen und schmerzen.

      Aber am meisten mitten im Herzen.

      Ich möchte sterben. Laß mich allein.

      Ich glaube, es wird mir gelingen,

      so bange zu sein,

      daß mir die Pulse zerspringen.

      Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen,

      der gestern noch ein Knabe war; von Frauen

      sind seine Hände noch zusammgefügt

      zu einem Falten, welches halb schon lügt.

      Denn seine Rechte will schon von der Linken,

      um sich zu wehren oder um zu winken

      und um am Arm allein zu sein.

      Noch gestern war die Stirne wie ein Stein

      im Bach, geründet von den Tagen,

      die nichts bedeuten als ein Wellenschlagen

      und nichts verlangen, als ein Bild zu tragen

      von Himmeln, die der Zufall drüber hängt;

      heut drängt

      auf ihr sich eine Weltgeschichte

      vor einem unerbittlichen Gerichte,

      und sie versinkt in seinem Urteilsspruch.

      Raum wird auf einem neuen Angesichte.

      Es war kein Licht vor diesem Lichte,

      und, wie noch nie, beginnt dein Buch.

      Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,

      an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;

      du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,

      du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen,

      du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,

      du dunkles Netz,

      darin sich flüchtend die Gefühle fangen.

      Du hast dich so unendlich groß begonnen

      an jenem Tage, da du uns begannst, –

      und wir sind so gereift in deinen Sonnen,

      so breit geworden und so tief gepflanzt,

      daß