Self-Development And The Way To Power. L.W. Rogers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.W. Rogers
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9782291060734
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Fred­rik Ska­gen

      Die Erinnerung folgt immer

      dem Ruf des Herzens

      Antoine de Rivarol

      Vielleicht geschieht es

      genau in dem Moment, als er auf den Bürgersteig tritt und der Verkehrslärm und die schroffe Kälte der Luft ihm wie eine kompakte Wand entgegenschlagen. Die Situation an sich macht ihn nicht ratlos, denn er ist es gewohnt, sich auf Tatsachen und Erfahrung, seinen Instinkt und gesunden Menschenverstand zu verlassen, um im Alltag rasche und richtige Entscheidungen zu treffen. Dass einem das Leben manchen Streich spielen konnte, hatte er schon früher erfahren; deshalb begegnet er dieser Situation mit einer Art professionellem Gleichmut, jedenfalls am Anfang. Wenn er Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden – er ist stehen geblieben, festgefroren, wie ein Stillleben –, dann liegt es an der banalen Tatsache, dass er keine Ahnung hat, in welche Richtung er gehen soll.

      Die Straße ist ihm vollkommen fremd. Er weiß nicht, wo er ist.

      Diese plötzliche Erkenntnis wirkt zunächst abwegig, und seine erste Reaktion gehört vermutlich zu den ältesten der Menschheit: er hebt die Hand und kratzt sich am Kopf. Unter normalen Umständen hätte er die Irritation überwunden, seine Selbstsicherheit wiedergewonnen und eine Entscheidung getroffen. Aber was waren normale Umstände? Diese hier auf keinen Fall. Seine Hand senkt sich langsam, als wundere er sich über die Entdeckung, barhäuptig zu sein. Er kann sich vage daran erinnern, in einer Kneipe gesessen und Bier getrunken zu haben, während er auf irgendjemand wartete. Der Betreffende war ausgeblieben, und schließlich war er aufgestanden und hatte das Lokal verlassen. Vielleicht lag die Verwirrung bloß daran, dass er einen falschen Ausgang gewählt und damit auf eine unbekannte Straße geraten war.

      Es bestand kein physisches Hindernis, sich aus dem Bann zu befreien und auf dem Absatz kehrtzumachen. Die Tür zum Pub liegt nicht einmal einen Meter von ihm entfernt. Er schiebt sie auf und geht hinein. Wenn er den Tisch fand, an dem er gesessen hat, würde er auch rekonstruieren können, warum er hier war und was er im Sinn hatte, als er sein Glas leerte und das Lokal verließ. Das ist die altbekannte, klassische Methode, die fast nie fehlschlägt: zum Ausgangspunkt einer Handlung zurückzukehren, um sich ihr Ziel ins Gedächtnis zu rufen.

      Die meisten Männer im Pub tragen dunkle Anzüge, einzelne auch Jeans und Pullover. Er kann sich an kein Gesicht erinnern, doch er war wohl zu sehr mit seinem Bier und den eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. In der schummrigen Ecke unter dem ausgeschalteten Fernseher sitzen dicht beieinander zwei junge Frauen. Unwillkürlich blicken sie zu ihm auf und schenken ihm ein pflichtschuldiges Lächeln, bevor sie die Köpfe wieder senken; wie zwei Nonnen, die beim Gebet gestört worden waren. Auf dem einzigen freien Tisch stehen ein leeres Bierglas, eine Tasse und ein Aschenbecher. Hier muss er gesessen haben, obwohl er sich momentan nicht daran erinnern kann. Er lässt sich auf einem der Stühle nieder und sitzt eine Weile zur Probe, dreht das Glas und lässt seinen Blick die Theke entlangschweifen, ist jedoch überzeugt davon, den Barkeeper nie zuvor gesehen zu haben. Er spürt, dass es in den Mundwinkeln und im linken Augenwinkel zu zucken beginnt. Auch die anderen Dinge kommen ihm unbekannt vor; es könnte sich um jeden x-beliebigen Pub handeln. Dennoch muss er hier gewesen sein. Was für eine lächerliche Situation! Er steht auf und geht entschlossen hinaus.

      Doch der Boden schwankt unter ihm.

      Als er bei kühler Witterung wieder auf dem Bürgersteig steht, dröhnt der Verkehr wie ein metallischer Wasserfall in seinen Ohren; vor seinen Augen scheinen Quecksilbertropfen hin und her zu rasen. Die Angst nimmt ernsthaft von ihm Besitz. Es hilft nichts, den Verstand zu bemühen, denn er kennt kein einziges Haus in dieser Straße. Nichts hat sich verändert seit vorhin, noch immer hat er keine Ahnung, wo er sich befindet, geschweige denn, aus welchem Grund er hier ist. Er geht nach rechts, aufs Geratewohl, entlang einer Häuserfront mit kleinen Läden. Es muss eine kühle Jahreszeit sein, denn die Leute sind warm angezogen. Er selbst ebenfalls. Anorak und Schal. Dunkelbraune, gefütterte Handschuhe. Die Temperatur liegt um null Grad.

      Ganz ruhig. Es ist Winter. Du bist in einen Stadtteil geraten, den du nicht kennst. Kein Grund zur Verzweiflung. Bald wirst du wieder Herr der Lage sein. Dies ist nur ein momentaner Kurzschluss. Das kann jedem passieren, wann auch immer, wo auch immer.

      Wo auch immer. Hier liegt das einfache, doch unheimliche Problem. An welchem Ort?

      Ort, Hort, Sport, Wort ... Am Anfang war das Wort.

      Er beginnt nach Wörtern zu suchen und findet rasch eine Antwort – auf den Schildern, über den Geschäften und in den Schaufenstern. Alle Wörter, die er liest, sind englisch. Vermutlich befindet er sich in Großbritannien, auch wenn er weder die Stadt noch den Anlass kennt, der ihn hierher geführt hat. Plötzlich packt ihn der Zorn. Diese Behandlung will er sich nicht gefallen lassen. Kaufte man zum Beispiel eine Ware, die nicht hielt, was sie versprach, hatte man allen Grund zur Reklamation und konnte bei einer Verbraucherschutzorganisation eine schriftliche Beschwerde einreichen. Es gab doch schließlich Grenzen, in welch brenzlige Situationen einen die Gesellschaft bringen konnte. Ein wohlbegründeter Protest war am Platz!

      Im nächsten Augenblick, immer noch erregt, begreift er die Naivität seiner Überlegungen. Hier nutzte es nichts, auf erprobte Verhaltensmuster zurückzugreifen; die Situation ließ sich nicht beeinflussen. Diese Einsicht ist es wohl, die ihn langsam die Kontrolle über sich verlieren lässt. Seine Füße zittern bereits. Das Beben breitet sich im ganzen Körper aus, sodass er stehen bleiben und sich gegen die Mauer stützen muss, um nicht die Balance zu verlieren. Beinahe muss er sich übergeben, so übel ist ihm.

      Komm zu dir. Unterdrück die Angst. Schließ die Augen. Denk nach.

      Er versucht es. Wieder sieht er den Pub vor sich. Vor kurzem hatte er noch drinnen in der Wärme gesessen und ein Bier getrunken. Er hatte auf jemand gewartet, eine Person, die nicht zur verabredeten Zeit erschienen war. Darum hatte er das Lokal verlassen, verärgert. Mit welchem Ziel?

      Er ist einer Ohnmacht nahe, hat Atemprobleme und spürt, wie der kalte Schweiß durch die Haut dringt und ihn von seiner Umgebung isoliert. Mit der freien Hand trocknet er sich die Stirn. Versucht sich zusammenzureißen, damit die Passanten nicht glauben, er lehne sich gegen die Wand, weil er krank oder betrunken sei. Er hasste es, unangenehm aufzufallen – und angeglotzt zu werden. Also: er hatte jemand treffen wollen. Einen Mann? Eine Frau? Ja, eine Frau, dessen ist er sich ziemlich sicher. War er mit ihr verheiratet? Sie hatte vermutlich Besorgungen machen wollen, und er hatte dankbar ihren Vorschlag angenommen, sich auszuruhen und im Pub auf sie zu warten.

      Das war immerhin eine Möglichkeit. Er schluckt und die Übelkeit wird ein wenig schwächer.

      Keine Sekunde glaubt er daran, zu träumen oder zu phantasieren. Träume konnten zwar sehr realistisch sein, waren jedoch immer von einer gewissen Verfremdung geprägt. Jetzt schien es sich schon eher um eine virtuelle Realität zu handeln, von der echten Wirklichkeit kaum zu unterscheiden, nur eine Nanosekunde vom eigenen Pulsschlag abweichend, ein so unbedeutend verzerrtes Spiegelbild, dass es mit dem Original praktisch identisch war. Die Erinnerung würde bald zurückkehren. Es bedurfte nur eines kleinen Rucks und er war wieder der Alte. Hinterher würden sie über die ganze Geschichte lachen. Vermutlich war er bloß überarbeitet. Oder das Bier war nicht in Ordnung gewesen. Er macht ein paar willkürliche Schritte und bleibt vor dem Schaufenster eines Uhrmachers stehen. Geschieht es schon jetzt? Er versucht, sich über seine Handlung Rechenschaft abzulegen.

      Habe ich angehalten oder bin ich angehalten worden?

      Alle ausgestellten Uhren zeigen dieselbe Zeit: 2.33. Seine eigene Armbanduhr auch.

      Vermutlich hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, er und die Frau, mit der er vielleicht verheiratet war. Während er versucht, sich daran zu erinnern, was sie gegessen hatten, wird die Übelkeit von einem unangenehmen, bohrenden Schmerz hinter den Schläfen abgelöst. Je mehr er sich zu konzentrieren versucht, desto unerträglicher wird er. Es hilft, die Uhren zu betrachten; damit kann er alle Gedanken verdrängen. Im Fenster befinden sich Uhren aller Größen und Formen, von gediegenen Wanduhren bis hin zu kleinen, ausgeklügelten Damenaccessoires, die so elegant sind, dass das Zifferblatt ohne Zahlen auskommt, alle dekoriert mit Weihnachtssternen und glitzernden Bändern. Er sieht auch verschiedene Wecker. Das wär’s! Aufzuwachen und auf einen