Er wollte sich wieder seinem schon gehievt werdenden Boote zuwenden, kam aber nicht dazu. Wir sollten etwas zu sehen bekommen, was uns vollends ins Bockshorn jagte.
Ein wütendes Heulen, und Diomedes kam angesetzt, ein furchtbares Ungeheuer von Bulldogge. Auf den fremden Hund hatte er es abgesehen.
Dieser, ein reizender Zwergpudel, das weiße Fell ebenfalls mit Teerflecken besprenkelt, hatte die Gefahr kommen sehen – mit einem Satze saß er auf der Schulter seines Herrn.
Nun aber war dieser in allergrößter Gefahr, jetzt hatte es die Bulldogge auf diesen abgesehen, wir sahen den Jungen schon zerrissen am Boden liegen, es war gar keine Zeit mehr, dazwischenzuspringen, und ich kann nur sagen, daß auch ich vor dem Köter den größten Respekt hatte. Ich hatte ihm schon einmal die Vorderpfoten halb zerquetscht, und gleich darauf hatte er mich doch wieder am Hosenboden gehabt. Nun wollten wir ihn aber gerade nicht anketten.
Da, als alles schon zu spät war, als wir den Jungen also im Geiste schon zerfleischt sahen, wandte sich dieser, sein Hündchen auf der Schulter, schnell um, bückte sich, befehlerisch die Hand ausgestreckt …
»I, willst du Luder gleich?!«
Und das Wunder geschah. Vor diesen mehr staunend-vorwurfsvoll als herrisch gesprochenen Worten fuhr der riesige Köter zurück, machte kehrt, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und verduftete, um nicht so bald wieder zum Vorschein zu kommen.
Ich will das Folgende kurz zusammenfassen. Vieles, was ich erst später erfuhr, muß ich auch vorausschicken.
Der Junge hatte sich gewaschen, zuerst mit Butter, wegen des Teeres, erst dann kamen Seife und Wasser daran, hatte aus einer Blechkiste einen Straßenanzug ausgepackt und machte jetzt einen recht netten Eindruck. Tiefbraun gebrannt, an sich schon brünett, mit schwarzen, funkelnden Augen, mit ziemlich langen Haaren, glich er ja mehr einem Zigeuner denn einem Nordländer, und dennoch war der Typus unverkennbar ein germanischer. Dabei ein intelligentes, schlagfertiges, nettes Kerlchen; aber … er wollte als Mann behandelt sein, noch mehr: als Kapitän.
Das hatte ich ja bald heraus, ich hatte Blodwen einen Wink gegeben, und nun kam es nur noch darauf an, das ›Wer bin‹ und ›Wohin‹ zu erfahren, und dabei durfte man den kleinen Stöpsel ja nicht beleidigen.
Wir setzten das unterbrochene Frühstück zu dritt fort, oder vielmehr zu viert, denn auch der Pudel speiste mit, später gesellte sich noch Doktor Selo hinzu.
Karl Algots, richtig aus Ritnese, jetzt zwölf Jahre alt, Vater ein kleiner Schmiedemeister, er selbst von Beruf Schuljunge, von zu Hause bei Nacht und Nebel durchgebrannt.
Hiermit wäre schon viel erledigt. Aber was ich sonst erfuhr – hätte ich so etwas gelesen, von anderer Seite erzählt bekommen, ich würde es niemals geglaubt haben.
Sein Vater war also ein ehrsamer Schmiedemeister.
Aber sein Urururgroßvater war der Peter Algots gewesen, genannt der Meerwolf, welcher seinerzeit den freien Hansastädten viel zu schaffen gemacht hat, ein berühmter oder berüchtigter Seepirat, der nur nicht durch Literatur so bekannt geworden ist wie Klaus Störtebecker.
Und so etwas wollte Karl auch werden. Ein Seeheld. Aber nicht erst als Schiffsjunge anfangen. Gleich Kapitän. Und bis zu seiner Einsegnung konnte er auch nicht mehr warten. Der Tatendrang war gar zu groß.
Vor zehn Wochen, genau am 1. März, war er losgesegelt. Von Ritnese aus. In jenem kleinen, offenen Segelboote, das auch gerudert werden konnte. Das nächste Ziel sollte die Westküste von Afrika sein.
Wie dieses Ziel erreichen? Nun, das war doch ganz einfach. Zunächst die Elbe hinunter, dann links herum die Küste von Oldenburg entlang, und so immer weiter die europäische Küste entlang: Holland, Belgien, Frankreich – und dann kam der verdammte Busen von Biscaya, dessen tiefen Einschnitt bis nach Spanien er natürlich mitmachen mußte, was ihn tüchtig aufgehalten hatte.
Jetzt, schon tief unten bei Portugal, hatte er das Schlimmste überstanden. Bald würde er seinen ›Albatros‹ etwas östlicher steuern können, wieder an der kleinen Strecke spanischer Küste entlang bis nach Gibraltar, von da war es ja nur noch ein Katzensprung bis nach Afrika hinüber, und hier nun ›ganz einfach‹ wieder immer die Küste entlang.
Heute freilich war seine Reise einmal unterbrochen worden, zum ersten Male hatte er eine wirkliche Gefahr überstanden. Ein kleiner Schiffbruch. Sein Boot – doch nein, sein Schiff, auf den Namen ›Albatros‹ getauft, mußte erst einmal ins Dock.
Ja, hätte ich das Bürschchen hier nicht selbst aufgefischt, ich würde so etwas niemals geglaubt haben!
Denn, lieber Leser, die Küste sieht in der Wirklichkeit total anders aus als auf der Landkarte! Probiere es einmal, in einem Boote so längs der Küste zu fahren. Oder frage einen Seemann, einen Lootsen. Ach, wo würdest du hinkommen, ach jeh!
Das konnten wohl die alten Phönizier und Römer, die hatten in Küstenseefahrt – eben weil sie noch keinen Kompaß besaßen und nichts wußten von einer geographischen Ortsbestimmung – die allergrößte Erfahrung, und die hatten ja auch Zeit, denen kam es nicht darauf an, einmal eine Woche lang umsonst gesegelt oder richtiger gerudert zu haben, dann wieder umkehren zu müssen, weil sie sich nämlich in einer Bucht verrannt hatten … und hiermit ist auch schon alles gesagt. Nein, das ist nicht so einfach.
Dieser kleine Karlemann hier aber war dazu befähigt. Er hatte nämlich Sextant, nautische Tabellen und Logarithmentafeln bei sich und wußte damit umzugehen, wovon ich mich sofort überzeugen mußte. Denn erst wollte ich es gar nicht glauben.
Ja, der Junge konnte es. Das heißt, über die Berechnung der nötigen trigonometrischen Formeln mittels Logarithmen gingen seine mathematischen und astronomischen Kenntnisse nicht, ein besonders talentierter Knabe war er überhaupt nicht, nun es gibt ja unter den Steuerleuten manches dumme Luder, dem das schließlich auch beigebracht wird — und dennoch, als ich dann den zwölfjährigen Stöpsel mit Sicherheit eine geographische Bestimmung nach der Sonne machen sah – ich war sprachlos vor Staunen.
Der Bengel hatte eben von zartesten Kindesbeinen an für weiter nichts Interesse gehabt als für Seefahrt und was damit zusammenhängt, und Ritnese ist ja nun für so etwas der richtige Ort. Die alten Kapitäne hatten das dem Kinde so spielend beigebracht. Faktisch, mit der einfachen Bruchrechnung haperte es – aber die zehnstelligen Logarithmen schüttelte er nur so aus den Aermeln, mit Leichtigkeit löste er die schwierigste trigonometrische Formel auf.
Da freilich hatte für ihn die Küstenschiffahrt nichts mehr zu bedeuten. Dann hätte ihm sogar ein einfacher Schulatlas genügt, und er besaß eine sehr genaue nautische Küstenkarte. Dann hatte ihm das ganze Meer offen gestanden! An der Küste mußte er sich nur wegen seines gebrechlichen Fahrzeuges halten, sobald ein Sturm wehte, mußte er einen Schlupfwinkel aufsuchen, und dann wegen Ergänzung des Proviantes. So war er auch immer nur am Tage gesegelt und gerudert, hatte es immer so einzurichten gewußt, daß er für die Nacht einen Hafen fand, wenn auch nur ein kleines Fischerdorf.
»Woher bekamen Sie denn das Boot, Herr Kapitän?« erlaubte ich mir zu fragen.
Ich befleißigte mich der größten Höflichkeit oder behandelte ihn doch als Kapitän, so wollte er es ja haben, und tat man es nicht, so fuhr man auch schlecht auf. Wer ihn du nannte, den duzte er auch, und man konnte noch mehr zu hören bekommen. Der erste Steuermann hatte vorhin ja eine Probe davon gekostet. Sonst aber war er ganz manierlich – oder würdevoll wie ein alter Seebär, der schon ein Dutzend Mal das Kap Horn umkreuzt hat.
»Gemaust,« antwortete er lakonisch mit kauendem Munde auf meine Frage.
»Ja seht, Käpt’n,« gab er gleich noch nähere Erklärung, »alles, was ich sonst brauchte, konnte ich mir ja kaufen, gleich bezahlen – ich brauchte ja nur zu sagen, ich wäre geschickt worden – aber das Boot – da hätte man doch Lunte riechen können. Da nahm ich’s so. Es gehörte dem Kapitän Reckmann, einem Nachbar von uns. Ich wußte damit Bescheid, er borgte es mir immer. Er wollte es schon immer verkaufen, dreißig Taler verlangte er dafür, und da habe ich ihm die dreißig Taler von Kuxhaven aus mit der Post zugeschickt,