»Bei dem nächsten Publican, welcher nach polizeilicher Vorschrift einen Schlüssel zum Turme besitzt, hinterließ ich die Weisung, daß man schnellstens zu mir schicken sollte, sobald sich wieder einmal die Lichterscheinung zeigen würde. Und richtig, schon in der nächsten Neumondnacht, so gegen elf Uhr, kam ein Bote. Jenes Turmzimmer sei wieder erleuchtet, man höre darin ein Wimmern.
»Ich war schon vorbereitet. Sofort in den Wagen. Der alte David mußte mich begleiten. Unterwegs nahmen wir noch einen Konstabler mit.
»Ich erzähle ganz kurz. Auch wir drei sahen das betreffende Fenster schwach erleuchtet. Dabei ein ganz eigentümliches Licht. So – so – nicht weiß, nicht gelb — ein fahles Geisterlicht, anders kann man sich nicht ausdrücken. Und dabei ein wimmerndes Stöhnen, auch von draußen ganz deutlich hörbar.
»Wir drangen ein. Nichts! Absolut nichts! Kein Licht, drinnen war auch nichts von dem Wimmern zu hören. Nun aber kommt das Merkwürdigste. Draußen standen der Publican und noch einige andere Leute, und diese behaupteten, auch als wir drin gewesen wären, hätten sie noch immer das Fenster erleuchtet gesehen und das Wimmern gehört, und daß dies wirklich so war, davon überzeugte ich mich sofort selbst. Die drinnen sahen und hörten nichts, aber ich selbst sah von draußen den Lichtschein und hörte die schrecklichen Töne. Doch sobald ich die Schwelle der Turmtür überschritt, verstummte auch für mich der Ton, von einem Lichte keine Spur, während die Draußenstehenden mir zuriefen, daß der Lichtschein am Fenster noch immer zu sehen sei. Wie können Sie sich das erklären?«
»Das war einfach ein reflektierter Lichtschein,« entgegnete ich, »und auch bei den Tönen handelt es sich um eine akustische Täuschung.«
»So? Ganz einfach? Eine optische und akustische Täuschung?« wiederholte sie spöttisch, und in diesem Augenblicke wollte sie mir gar nicht gefallen. »Nun, warten Sie nur, was noch weiter folgt.
»Der Publican und die anderen Eingeweihten sagten, daß dies ganz selbstverständlich sei. So hätte der Spuk es immer gehalten. Draußen das Licht zu sehen und das Wimmern zu hören, und wenn man eindrang, war alles dunkel und ruhig. Aber allein sollte man einmal eine Nacht drin verbringen, ganz allein, dann würde man schon etwas erleben.
»Mein Entschluß stand fest. In der nächsten Neumondnacht machte ich mich wieder auf den Weg, ganz allein, zu Fuß – niemand wußte etwas von meinem Vorhaben und sollte es auch nicht erfahren, damit man nicht etwa Vorbereitungen zu einem künstlichen Spuk inszenieren könne.
»Gegen zehn Uhr erreichte ich den Turm, zu dem ich selbst den Schlüssel besaß. Heute war von einer Lichterscheinung und einem Wimmern nichts zu bemerken. Das sollte sich ja auch immer erst in der elften Stunde zeigen und um eins wieder aufhören.
»Ich drang ein, begab mich in das betreffende Zimmer, stellte die brennende Kerze auf den Tisch, kochte auf einer Spiritusmaschine Kaffee und wartete nun des Kommenden. Und es sollte denn auch kommen.«
Die Erzählerin machte eine Pause, sie wurde plötzlich noch blasser, wie ein Schauern ging es durch ihre Glieder.
Und ich sah sie starr an. Wie? Gestern hatte sie sich vor einer Maus gefürchtet, und damals wollte sie eine einsame Nacht in dem Spukzimmer verbringen? Wie reimte sich das zusammen? Das gestern mit der Angst vor der Maus war mir ja gleich erkünstelt erschienen – und dennoch … mir kam an der ganzen Sache gleich etwas nicht ganz geheuer vor. Aber war jetzt dieses noch nachträgliche Entsetzen nicht unbedingt echt?
Sie hatte sich wieder gefaßt, mit ihrer ruhigen Stimme fuhr sie fort:
»Ich muß eingeschlafen sein. Wie es geschah, weiß ich nicht. Eine Art von Betäubung kam über mich. Plötzlich erwachte ich. Ein wimmernder Ton hatte mein Ohr getroffen. Und da sah ich – und da sah ich …«
Ein neues Entsetzen der Erinnerung befiel sie, und ich gestehe, daß ich selbst mit angesteckt wurde, am hellerlichten Tage.
»Nun, was sahen Sie?« flüsterte ich.
Mit Gewalt rang sie ihre furchtbare Erregung nieder.
»Meine Kerze war erloschen. Trotzdem herrschte in dem Zimmer ein schwaches Licht. Es ging von einer menschlichen Gestalt aus, die vor der Schreibkommode saß, deren oberer Teil jetzt heruntergeklappt war. Eine weiße, etwas leuchtende Gestalt – ein Weib – es machte durch die gebückte Haltung und dann durch ein Hüsteln, welches immer durch das Stöhnen und Wimmern klang, auf mich auch gleich den Eindruck eines alten Weibchens – und ich konnte auch von dem Sofa aus, auf dem ich saß, ganz deutlich sehen, was sie tat. Sie hatte ein Federmesser in der weißen, durchsichtigen Hand und radierte mit diesem auf einem gelblichen Bogen Papier herum, auf dem ich auch Schriftzüge unterscheiden konnte.
»Fragen Sie mich nicht, was ich dachte. Ich weiß auch nicht, wie lange ich so die weiße Gestalt mit entsetzten Augen beobachtete. Ich war unfähig, mich zu rühren, war wirklich wie gelähmt. Dazwischen immer das Hüsteln, Seufzen und ein lautes Wimmern, während sie ständig auf ein und derselben Stelle des Papiers herumschabte. Dann erhob sie sich mit einem schweren Seufzer, legte den gelben Bogen und das Radiermesser in ein aufgezogenes Fach der Schreibkommode, verschloß deren Deckel, d. h., klappte diesen herunter – von einem Schlüssel bemerkte ich nichts – jetzt drehte sie sich herum, ich sah das Gesicht, wirklich das eines alten Weibchens – aber nun diese Augen, wie kalt und starr und leer die auf mich gerichtet waren! – doch sie schien mich gar nicht zu bemerken, schwebte an dem Tisch vorüber, nach der Wand zu, es war mir, als dränge sie durch dieselbe hindurch … mit einem Male war alles vorbei – meine Kerze brannte wieder, ich fühlte wieder Leben in mir … wie ich die Treppe hinunter und zum Turme hinausgekommen bin, weiß ich nicht.«
Die Erzählerin schwieg, wurde aber von einem neuen Schaudern geschüttelt, und dementsprechend war ihr Gesicht.
»Sie werden geträumt haben, Mylady,« sagte ich. »Ihre Einbildung war sowieso mit … «
Nur der Ausdruck ihrer seltsam großen, auf mich gerichteten Augen war es, was mich unterbrach.
»Ich versichere Sie, daß ich nicht geträumt habe,« erklang es feierlich, »so wenig wie jetzt – ich sah den Geist so deutlich, wie ich Sie jetzt vor mir sehe – wollen Sie mir das glauben?«
Da konnte ich nur die Schultern heben.
»Haben Sie noch einmal nachgeforscht?«
»Zwei Tage brauchte ich, um mich von meinem Schreck zu erholen. Gesprochen habe ich zu niemandem darüber. Was ich gesehen hatte, konnte mir keiner abstreiten. Ich bildete mir selbst ein Urteil. Es gibt etwas, was … über unsere Begriffe geht. Das gelbe Dokument, das Radieren … hier war einmal eine Urkundenfälschung oder etwas Aehnliches geschehen, was dem Täter keine Ruhe im Grabe ließ. Am dritten Tage begab ich mich nochmals hin. Die Schreibkommode war verschlossen. Ich ließ einen Kunstschlosser holen, der sie nach vieler Mühe öffnete. Sehen Sie, und ich erblickte genau dieselben Fächer, die eigentümliche Schnitzarbeit, wie ich alles in jener Nacht gesehen hatte. Ich wußte auch noch genau die Schublade, welche offen gewesen war, links die dritte von oben. Aber sie war leer wie alle anderen Schubfächer. Auch nicht ein einziges Stückchen Papier darin.«
»Nun, also, Mylady – und Sie wollten doch deutlich gesehen haben, wie das geisterhafte Weibchen das Radiermesser und das Papier in die Schublade zurücklegte und … «
»Bitte, das war doch jedenfalls nur Einbildung des Geistes – er führt im traumhaften Zustande nur eine eingebildete Handlung aus – der lebende Beobachter aber ist nun gezwungen, dies mitzusehen, für ihn wird das eine reelle Handlung. Es ist eine Theorie – verstehen Sie nicht, wie ich das meine?«
O ja, ich verstand. Das heißt, ich konnte diese Theorie recht wohl begreifen. Sonst wollte ich mich jetzt jeder eigenen Meinung enthalten.
»Haben Sie die Sache weiter verfolgt?«
»Nein. Meine Cousine, Mrs. Milner, hat Ihnen doch von meinem Schicksal erzählt, von meiner unglücklichen Ehe und allem anderen.«
Ich bejahte. Es war das erstemal, daß sie dieser Cousine erwähnte und von ihrem eigenen Unglück eine Andeutung machte.