Der Schiffsjunge Ransome (von dem ich zum erstenmal von diesen Abscheulichkeiten gehört hatte) kam von Zeit zu Zeit aus der Offizierskajüte herüber, wo er schlief und bediente, manches Mal mit einem wunden Glied, das er in stillen Schmerzen pflegte, manches Mal schimpfend und rasend gegen Herrn Shuans Grausamkeiten. Mir blutete dabei das Herz; aber die Männer hatten großen Respekt vor dem ersten Steuermann, der, wie sie sagten, der einzige Seekundige von der ganzen Bande wäre und gar kein so übler Mensch, wenn er nüchtern war. Ich entdeckte wirklich zwei merkwürdige Eigenheiten an unseren beiden Steuermännern, nämlich: Herr Riach war brummig und unfreundlich und barsch, wenn er nüchtern war, und Herr Shuan hätte keiner Fliege was zu leide tun können, außer wenn er betrunken war. Ich fragte, wie dies beim Kapitän sei, aber man sagte mir, diesem Manne aus Eisen könne kein Trinken was anhaben.
Ich bemühte mich, so gut ich konnte, in der kurzen Zeit, die ich hatte, etwas wie einen Mann oder besser gesagt, wie einen Knaben aus diesem armen Geschöpf Ransome zu machen. Aber sein Verstand war kaum menschlich zu nennen. Er erinnerte sich an nichts vor der Zeit, da er zur See gegangen war, außer, daß sein Vater Uhren gemacht hatte und einen Star in seinem Wohnzimmer hatte, der ein Lied pfeifen konnte. Alles andere war in diesen Jahren des Elends und der Grausamkeiten verwischt worden. Er hatte eine merkwürdige Vorstellung vom Festlande, die er sich aus Matrosengeschichten zusammengeklaubt hatte: daß es ein Ort sei, wo man die Burschen in eine Art Sklaverei steckte, »in die Lehre geben« nannte man es, und wo die Lehrlinge immerfort geprügelt und in stinkende Gefängnisse gesperrt werden. In der Stadt, glaubte er, sei jeder zweite ein Verbrecher und jedes dritte Haus ein geheimer Ort, an dem Matrosen betäubt und ermordet werden. Natürlich konnte ich ihm erzählen, wie freundlich ich selbst auf diesem Festlande, vor dem er solche Angst hatte, behandelt worden war; wie gut genährt und wie sorgsam erzogen, sowohl von meinen Eltern als auch von Freunden; und war er kurz vorher geschlagen oder verwundet worden, so weinte er wohl bitterlich und schwur, davonzulaufen; aber hatte er seine gewöhnlichen, verrückten Launen, oder gar ein Glas Branntwein bekommen, dann lachte er mich aus.
Es war Herr Riach (Gott verzeih' es ihm), der dem Knaben zu trinken gab, und sicherlich war es gut gemeint gewesen; aber abgesehen davon, daß dies seiner Gesundheit schadete, war es auch ein gar jammervoller Anblick, wie dieses unglückliche, freudlose Geschöpf da herumtaumelte und tanzte und redete, ohne zu wissen, was. Einige lachten, aber nicht alle, und andere wieder wurden finster und böse (sie erinnerten sich vielleicht ihrer eigenen Kindheit oder ihrer eigenen Kinder) und hießen ihn aufhören mit diesem Unsinn und überlegen, was er tue. Was mich anbelangt, so schämte ich mich ihn anzusehen und jetzt noch erscheint mir das arme Kind oft in meinen Träumen.
Die Covenant hatte all die Zeit über, müßt ihr wissen, widrigen Wind und wurde von den Wogen hin und her geworfen, so daß die Luke beinahe immer geschlossen bleiben mußte und das Vorderdeck nur von einer hin und her schwingenden Laterne schwach erleuchtet war. Alle Hände hatten fortwährend vollauf zu tun; die Segel mußten jede Stunde gehißt und wieder heruntergelassen werden; die ununterbrochene Anspannung drückte auf die Nerven der Leute; den ganzen Tag über, vom Aufstehen bis zum Niederlegen, brummten und stritten sie miteinander; und da ich meinen Fuß niemals auf Deck setzen durfte, kann man sich leicht vorstellen, wie überdrüssig ich meines Lebens wurde und wie sehr ich mich nach Veränderung sehnte.
Und eine Veränderung sollte mir auch werden, wie ihr gleich hören sollt. Aber zuerst muß ich von einer Unterhaltung erzählen, die ich mit Herrn Riach hatte, und die mir wieder ein wenig Mut gab, meine Leiden zu ertragen.
Als er wieder einmal eine genügende Menge getrunken hatte, um in einer günstigen Verfassung zu sein (denn er sah mich tatsächlich nie an, wenn er nüchtern war), bat ich ihn um Verschwiegenheit und erzählte ihm meine ganze Geschichte.
Er erklärte, es hörte sich wie ein Märchen an; er wollte sein Möglichstes tun, mir zu helfen; ich solle mir Papier, Feder und Tinte verschaffen und eine Zeile an Herrn Campbell und eine zweite an Herrn Rankeillor schreiben und wenn ich die Wahrheit spräche, so könnte er mich (mit ihrer Hilfe) höchstwahrscheinlich durchbringen und mir zu meinem Rechte verhelfen.
»Und in der Zwischenzeit,« sagte er, »bleib guten Mutes. Du bist nicht der einzige, das sag' ich dir. Mehr als einer pflanzt drüben Tabak an, der zu Hause vor seiner eigenen Tür sein Pferd besteigen sollte. Viele, sehr viele! Das Leben ist ein Variorum, bestenfalls! Schau' mich an, ich bin der Sohn eines Gutsherrn und mehr als ein halber Doktor und hier bin ich – Hoseason's Schiffsknecht.«
Ich hielt es für höflich, ihn nach seiner Geschichte zu fragen.
Er pfiff laut ein Liedchen.
»Hab' keine«, sagte er. »Ich war gerne lustig, das ist alles!« Und er wankte aus dem Vorderdeck hinaus.
Kapitel VIII
Die Offizierskajüte
Eines Abends gegen neun Uhr kam ein Mann von Herrn Riachs Nachtwache (er selbst war auf Deck) herunter, um sich seine Jacke zu holen. Da ging augenblicklich ein Flüstern durch den Raum, daß Shuan ihm nun endlich den Rest gegeben hätte. Es war nicht notwendig, einen Namen zu nennen, wir wußten alle, wen er meinte. Aber wir hatten kaum Zeit, uns über den Gedanken ganz klar zu werden, noch viel weniger darüber zu sprechen, als die Luke wieder aufgerissen wurde und Kapitän Hoseason die Leiter herunterkam. Er blickte suchend beim schwankenden Licht der Laternen rings umher auf alle Pritschen, dann ging er geradewegs auf mich zu und redete mich zu meiner größten Verwunderung freundlich an.
»Auf, Bursche,« sagte er, »wir brauchen dich, du sollst in der Offizierskajüte bedienen. Du wirft mit Ransome das Lager tauschen. Lauf, schnell, achtern mit dir!«
Während er noch sprach, erschienen zwei Matrosen in der Öffnung, die Ransome auf den Armen trugen. Da das Schiff in diesem Augenblick stark schaukelte, fiel das Licht der schwankenden Laterne hell auf des Knaben Antlitz. Er war weiß wie Wachs, und es lag ein Ausdruck gleich einem entsetzlichen Lächeln darauf. Mir stockte das Blut in den Adern und ich hielt den Atem an, als hätte ich einen Schlag bekommen.
»Lauf, schnell achter, lauf! achtern mit dir!« rief Hoseason.
Daraufhin streifte ich an den Matrosen und dem Knaben vorbei (keiner sprach oder rührte sich) und lief die Leiter hinauf auf Deck.
Das Schiff schaukelte stark und schwindelerregend auf dem Kamm einer langen, anschwellenden Woge. Es neigte sich nach der Steuerbordseite und ich konnte links, unter dem gebauschten Ende des Focksegels die untergehende Sonne noch ziemlich hell scheinen sehen. Dies zu einer so vorgerückten Stunde setzte mich zwar in Erstaunen, aber ich besaß zu wenig Kenntnisse, um daraus den richtigen Schluß zu ziehen – daß wir nördlich um Schottland herumsegelten und uns jetzt zwischen Orkney und den Shetlandinseln auf hoher See befanden und die gefährlichen Strömungen des Pentland Firth glücklich vermieden hatten. Ich für mein Teil, der so lange im Finstern gelegen hatte und nichts von widrigen Winden wußte, glaubte, daß wir bereits den halben Weg oder noch mehr über den Atlantischen Ozean hinter uns hätten. Und wirklich (ich wunderte mich zwar ein wenig über die späte Stunde des Sonnenunterganges) gab ich nicht sehr Acht darauf und beeilte mich, übers Deck zu kommen, lief durchs Wasser und hielt mich an den Tauen fest; daß ich nicht über Bord fiel, verdanke ich nur der gütigen Hilfe einer Hand auf Deck, die mir allezeit gnädig gewesen ist.
Die Offizierskajüte, in die ich sollte, und wo ich jetzt schlafen und bedienen