Am anderen Morgen lief die erschütternde Nachricht durch die Stadt, daß der Herr Rat Wolfram selbst in seinen Gruben verunglückt sei. Die Leute erzählten, er sei des Nachts wie ein Trunkener oder ein vom Schwindel Befallener hinaufgekommen, sei allen Abmahnungen zum Trotz mit der Rettungsmannschaft in die Gruben hinabgefahren und plötzlich, kaum nach Beginn der Einfahrt, lautlos von ihrer Seite verschwunden – der Schwindel müsse ihn in die gähnende Tiefe hinabgerissen haben.
36.
Eine unbeschreibliche Aufregung herrschte in allen Kreisen. Man hatte ja das Unheil in den Gruben längst vorausgesagt, und doch hatte es durch den habgierigen Starrkopf des Bergwerkbesitzers und den Leichtsinn seiner Arbeiter dahin kommen dürfen, daß in wenigen schrecklichen Stunden eine Schar kräftiger Männer, Väter und Söhne, eines furchtbaren Todes sterben mußten–es waren nur wenige gerettet worden. In all dem Jammer, der grenzenlosen Erbitterung war es deshalb für viele Gemüter ein wahrer Trost, eine tiefe Genugtuung gewesen, daß der Rat Wolfram die ganze Schuld allein auf seine Schultern nehmen und deshalb schwer werde büßen und bluten müssen ...
Nun war er aber tot – er war selbst das Opfer der Katastrophe geworden, noch dazu in derselben Nacht, wo er sein einziges Kind hatte sterben sehen. Für viele war das die notwendige Sühne seines Unrechts, die sichtbare Hand Gottes selbst, die ihn strafend in die Tiefe geschleudert, andere aber munkelten bereits, daß sein jähes Ende wohl nicht ohne seinen eigenen Willen und Vorsatz erfolgt wäre.
Aber die Art und Weise, wie Veit verunglückt war, verlautete noch nichts in der Öffentlichkeit. Desto größer war das Aufsehen im Schillingshofe selbst. Hannchen war sofort in das Atelier gegangen und hatte dem Herrn des Hauses das Geschehnis angezeigt, und Mamsell Birkern hatte auch keine Veranlassung gehabt, bei den Bediensteten über Adams glänzende Rechtfertigung zu schweigen. Die Nachricht hatte wie eine Alarmtrommel das ganze dienende Völkchen zusammengescheucht ... Wie – es war nicht der Geist des armen Bedienten gewesen, der hinter den Holzwänden des Salons gespukt hatte? Wirkliche Füße und Finger von Fleisch und Bein hatten an der spukhaften Stelle getappt und getastet, und das vermeintliche Gespenst wandelte stolz und hochmütig durch die Straßen der Stadt, ließ sich »Herr Rat« titulieren, war der Reichste unter den Reichen im weiten Umkreise, und hatte es nie der Mühe wert gefunden, den ehrlichen Dienstboten des Schillingshofes für ihren ehrerbietigen Gruß auch nur mit einem Augenwink zu danken! – Dieser Spion, dieser Horcher an der Wand, dieser Spitzbube, der dem alten Freiherrn die Gedanken aus dem Kopfe und damit Unsummen aus der Tasche gestohlen hatte!
Nie hatten sich die braven Leute so viel in der Flurhalle und im Gang zu schaffen gemacht als an diesem Nachmittage, wo sie hofften, durch eine offengelassene Tür einen Einblick in den interessanten Salon zu gewinnen und die Verwüstung zu begucken, die der »tapfere« Pirat mit der Wucht seines Sprunges angerichtet. Allein Jack stand wie eine schwarze Marmorfigur ernsthaft vor der Tür, und die stolze Bewohnerin des Zimmers, die sonst immer um diese Zeit in den Garten ging, verließ heute ihre Gemächer nicht. Zudem erschien plötzlich Baron Schilling; und wenn er auch, durch Jack angemeldet, nur für wenige Minuten im Salon verblieben war, um sich als Herr des Hauses vom Sachverhalt zu überzeugen, so konnte er doch jeden Augenblick wiederkommen, und der finstere, verweisende Blick, mit dem er die Wißbegierigen in der Flurhalle gemessen hatte, war allen in die Glieder gefahren.
Am Morgen des anderen Tages aber standen sie doch schon wieder alle am Eisengitter des Vorgartens; sie schielten flüsternd nach dem Klosterhause und sprachen mit den Vorübergehenden, die auch zu Haufen stehen blieben – der Bäckerjunge hatte die Nachricht von dem Tode des Rates mitgebracht. Die Leute waren nicht wenig erstaunt, als eine Magd vom Klostergute mit verweinten Augen hastig und schweigend an ihnen vorüber nach dem Säulenhause schritt und gleich darauf mit Donna Mercedes zurückkam. Sie hielt sich in scheuer Entfernung hinter der schönen, schlanken Frau, die ein schwarzes Spitzentuch über den Kopf und die Büste geworfen hatte, und die kleine Paula an der Hand führte.
Alles wich scheu zur Seite vor der schwebenden majestätischen Erscheinung, die mit ihren feinbekleideten Füßen zum erstenmal den Gehweg vor dem Eisengitter betrat, um gleich darauf im Mauerpförtchen des Klostergutes zu verschwinden.
Es war der Majorin nicht so gut geworden, wie sie gehofft und gewünscht, sie hatte nicht am Schillingshof anklopfen und Einlaß begehren können, um bei den Enkeln, den einzigen Wesen auf der Welt, die zu ihr gehörten, Trost und Beruhigung zu suchen. Als der erste Schein des ersehnten Frührots am Himmel aufgeflogen war, die Vögel im Gebüsch sich geregt und die Haushähne auf dem Hinterhofe ihren Weckruf in die Morgenstille hineingeschickt hatten, da war auch ein seltsames Raunen und Regen jenseits des Hintergebäudes laut geworden. Sie hatte gehört, wie die Mägde nach ihr riefen und sie ohne Zweifel im ganzen Hause suchten. Aber sie hatte sich nicht finden lassen wollen; für sie gab es keinen Weg mehr zu dem Bruder zurück.
Sie war von der Bank aufgestanden und förmlich flüchtenden Fußes nach der Tür geschritten, die in die öde Straße führte, bis der alte Knecht des Hauses, Thomas, suchend den Kopf durch die Gartentür gesteckt und ihr eine grauenhafte Botschaft nachgerufen hatte ...
Vorbei war alles, alles! – Da auf der Tragbahre, die man inmitten des Hausflurs niedergestellt hatte, lag das Ende eines mehr als dreihundertjährigen Wirkens und Strebens, lag der Stürmische, Gewalttätige, der zuletzt mit bösen Dämonen gerechnet, in der wahnsinnigen Sucht, alles weit zu überbieten, was die Altvorderen geleistet hatten. Tränenlosen Auges war sie nach dem Refektorium gewankt, hatte die Tür weit zurückgeschlagen und den Leuten stumm gewinkt, den letzten Herrn des Klostergutes in das stolzeste Zimmer des Hauses zu tragen. Sie hatte eigenhändig seinen kleinen Sohn neben ihn gebettet und dann an den getäfelten Wänden die massiv silbernen Armleuchter befestigt, die zum letztenmal bei Veits Taufe gestrahlt hatten – noch einmal sollte ihr Kerzenlicht aufflammen, dann leuchteten sie keinem Wolfram wieder.
Wie eine Schlafwandelnde ging sie umher; ihre Schläfen hämmerten und das Blut fieberte; aber was geschehen mußte, das wurde getan mit übermenschlicher Willenskraft und Selbstüberwindung, und später, als es still im festverschlossenen Hause geworden war, ließ sie Donna Mercedes sagen, sie könne heute nicht kommen – sie müsse Totenwache auf dem Klostergute halten.
Da war es nun freilich, als schwebe über den Gerüsten, die sich in der verhängnisvollen Nacht aufgetan hatten, eine holde Psyche empor – das kleine, blondlockige Mädchen im weißen Kleide flatterte an Donna Mercedes' Hand in die düstere Flur des Klosterhauses; aber es sah sich plötzlich mit großen, erschreckten Augen um und steckte das kleine Gesicht in die Kleiderfalten der Tante, genau so, wie es einst der arme, kleine Knabe im blauen Samtröckchen getan hatte.
Und die Frau, die damals ihr Kind heftig gescholten hatte, weil sie stets der Meinung gewesen war, es gäbe nichts Stolzeres, Gediegeneres, kein Haus, das mehr anheimeln könnte als ihr Vaterhaus auf dem Klostergute, sie ließ jetzt unwillkürlich den Blick über die Wände und das schwarzbraune Deckengebälk hinfliegen, und da war es, als sei droben alles verschoben und verzogen wie ein über Nacht gealtertes, aus den Linien gegangenes Gesicht, als sei mit dem letzten gebrochenen Manneswillen, der drin auf der Bahre lag, auch das uralte »Falkennest« der Wolframs morsch geworden, und die schiefen Balken mußten demnächst wie Späne zersplittern unter der Wucht der von oben herabstürzenden Mauertrümmer, in welche der düstere Mönchsbau zusammensinke.
»Meines Bleibens ist hier auch nicht länger, als die Pflicht verlangt,« sagte sie wie unbewußt, mit zuckenden Lippen, und nahm das Kind vom Boden auf, um es beruhigend an ihr Herz zu drücken; Donna Mercedes aber streckte sie lebhaft, wie von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, ihre Rechte hin. Diese junge majestätische Frau, die stolzes Geblüt in den Adern hatte, war gekommen wie eine treue Tochter, um ihr Trost zu bringen und sie zu stützen, nicht beachtend, daß sie damit öffentlich ein Haus betrete, welches das Verbrechen entehrt hatte ... Und war sie auch sein und der bittergehaßten »Zweiten« Kind, so war sie doch auch Felix' Schwester, die