6.
Pfingsten war vorüber. Die Glocken, die ehernen, hatten sich ins Stillleben zurückgezogen und blickten droben schwarz und ganz unbeweglich durch die Schalllöcher, als seien sie die Särge des melodischen Lebens, das während der Feiertage die Türme umbraust hatte. Die bunten Glöckchen im Walde aber, lose auf grünem Stengel hängend und ihres feierlichen Amtes wohl bewußt, konnten das Fest nicht vergessen. Sie waren wacker mit eingefallen, wenn es durch die Lüfte harmonisch und erhaben gezittert hatte, und läuteten nun auch unermüdlich weiter bei jedem Windhauche, der durch das Unterholz strich. Es kümmerte sie ganz und gar nicht, daß der Holzhacker, Sonntagsstaat und Festmiene zu Hause lassend, nun mit grober Sohle an ihnen hinstreifte und ein rauhes Lied vor sich hin pfiff. Ließ sich doch der Wald auch nicht irre machen; es zog und wehte geheimnisvoll durch seine Baumwipfel, wie ein von tausend Stimmen geflüstertes Gebet, und die Vögel sangen in den Morgen-und Abendstunden nach wie vor ihre Hymne zur Ehre Gottes.
Droben im alten Schlosse Gnadeck harmonierte die nachhaltige Festtagsstimmung mit der des Waldes, obgleich Ferber seine Geschäfte übernommen und außerdem die unvermeidlichen Antrittsbesuche in L. abzumachen hatte. Frau Ferber und Elisabeth hatten sich durch Sabine bedeutende Aufträge eines Weißwarengeschäfts in L. zu verschaffen gewußt und waren nebenbei im Garten beschäftigt, der in diesem Jahre noch nach Kräften seinen Tribut abgeben sollte. Daß trotz dieser Rührigkeit immer noch ein sonntäglicher Hauch durch die Räume des Zwischenbaues wehte, lag in der gehobenen Stimmung der Familie selbst, die den Einfluß eines glücklichen Wendepunktes in ihrem Leben ungeschwächt fortempfand und sich jeden Augenblick angeregt fühlte, das Sonst mit dem Jetzt zu vergleichen; das Waldleben, so ungewohnt und neu, wirkte fast berauschend auf die Gemüter.
Die zärtlichen Eltern hatten Elisabeth das Zimmer mit den Gobelins angewiesen, weil es die schönste Aussicht bot und gleich bei der ersten Musterung des Zwischenbaues von dem jungen Mädchen für das hübscheste und gemütlichste erklärt worden war. Die unheimliche Thür, die nach dem großen Flügel führte, hatte man wieder zugemauert; die hohen Eichenflügel mit den Messingschlössern und Riegeln bedeckte das Mauerwerk und ließ nicht ahnen, daß jenseits die Wüstenei begann. Den Hintergrund des Zimmers füllte eines der neu hergerichteten Himmelbetten aus; in der Nähe des Fensters befand sich der altertümliche Schreibtisch, außer einem altmodischen Porzellanschreibzeuge und den nötigen Schreibutensilien auch noch zwei hübsche kleine Vasen voll frischer Blumen auf seiner Platte tragend, und draußen auf dem breiten Steinsims, von der Krone eines Syringenbusches schmeichelnd umspielt, stand der gelbe Messingkäfig, in welchem Hänschen, der Kanarienvogel, mit dem ganzen Neide einer verzogenen Bravoursängerin seine schmetternden Triller vor denen der Waldvirtuosen geltend zu machen suchte.
Als das Zimmer eingerichtet wurde und Frau Ferber alle Augenblicke einen neuen Gegenstand brachte, um den kleinen Raum auch recht anmutend auszuschmücken, da trat der Vater endlich an die längste Wand, breitete die Arme darüber und verbannte den kleinen Divan, der eben hereingeschoben werden sollte, wieder in das Nebenzimmer.
»Halt, diesen Platz reserviere ich mir!« rief er lachend. Er holte eine große Konsole von dunklem Holze und befestigte sie an der Wand, die gerade an dieser Stelle eine sehr breite Holzleiste zeigte. »Hier,« fuhr er fort, indem er eine Büste Beethovens darauf stellte, »hier soll er, der Einzige, ganz allein thronen!«
»Aber das sieht ja abscheulich aus,« meinte Frau Ferber.
»Na, warte nur, morgen oder übermorgen wirst du dich überzeugen, daß mein Arrangement nicht so sehr zu verwerfen ist, und daß für Elisabeth noch ein ganz besonderer Vorteil aus den vorgefundenen Möbeln entspringt.«
Am folgenden Tage, es war der Pfingstabend, fuhr er mit dem Oberförster nach der Stadt, und als er gegen Abend zurückkehrte, kam er nicht durch das Mauerpförtchen. Das große Thor wurde geöffnet, und vier starke Männer trugen einen großen, glänzenden Gegenstand durch die Ruinen. Elisabeth stand gerade in der Nähe des Küchenfensters und war – zum erstenmal in der neuen Wohnung – mit der Zubereitung des Abendbrotes beschäftigt, als die Männer mit ihrer Last den Garten betraten.
Sie schrie laut auf; denn das war ja ein Klavier, ein schönes, tafelförmiges Instrument, das ohne weiteres in den Zwischenbau hineingetragen und droben im Gobelinzimmer unter Beethovens Büste gestellt wurde. Elisabeth weinte und lachte in einem Atem und schlang jubelnd die Arme um den Hals des Vaters, der sein einziges kleines Kapital – den Erlös aus den Möbeln in B. – hingegeben hatte, um ihr das, was die Wonne ihres Lebens war, wieder zu verschaffen. Dann aber öffnete sie das Instrument, und gleich darauf schlugen mächtige Akkorde an die engen Wände, die so lange das Schweigen des Todes umfangen hatte.
Der Oberförster war auch mitgekommen, denn er wollte Elisabeths Freude und Ueberraschung sehen. Er lehnte jetzt stumm an der Wand, als die wunderbaren Melodieen unter den Fingern des jungen Mädchens hervorrauschten. In diesem Augenblicke sprach ja die glühende, mächtige Seele, die in der lieblichen jungen Hülle wohnte, zum erstenmal in ihrer ganzen Gewalt zu ihm. Dieser feingemeißelte Kopf, wie wunderbar beseelt und gedankenschwer erhob er sich jetzt über der zarten Gestalt, welche der ganze Zauber des Mädchenhaften und Tiefsinnigen umwob. Bis dahin waren ja nur Neckereien und Witzworte zwischen ihr und dem Onkel hin und her geflogen. Er nannte sie der Leichtigkeit ihrer Bewegungen und ihrer Gedankenschnelle halber, die nie um eine witzige Replik verlegen sein ließ, oft seinen Schmetterling, am meisten aber »Goldelse«, indem er behauptete, ihr Haar sei so golden, daß er es durch den dichtesten Wald blitzen und schimmern sähe, wie einst jung Roland das Kleinod im Schilde des Riesen.
Als Elisabeth geendet, legte sie beide Hände über das Klavier, als wollte sie den neuen Besitz umarmen, und lächelte glückselig vor sich hin; der Oberförster aber näherte sich ihr leise, küßte sie auf die Stirn und ging schweigend hinaus.
Von diesem Momente an kam er jeden Abend hinauf ins alte Schloß. Sobald die letzten Streiflichter der Sonne auf den Baumgipfeln erloschen waren, mußte sich Elisabeth an das Klavier setzen. Die kleine Familie nahm Platz in der Nische des weiten Bogenfensters und versenkte sich in das Gedankenmeer des Meisters, dessen Bild von der Wand herab ernst auf die begeisterte junge Spielerin schaute. Dann dachte Ferber wohl daran, wie sich Elisabeth das Leben im Walde ausgemalt hatte, als der Brief vom Försteronkel in B. eingelaufen war. Elfen und Kobolde erschienen freilich nicht; wohl aber zogen die Geister, die der gewaltige Tondichter in die Töne gebannt hat, entfesselt auf dem Musikstrome hinaus und hauchten in die feierliche Stille jenes geheimnisvolle Leben, dessen Wonnen und Leiden, wenn auch durch jede empfindende Menschenbrust flutend, auszusprechen und zu verkörpern doch nur dem Genius beschieden ist.
Eines Nachmittags saß die Familie Ferber beim Kaffee. Der Oberförster war auch heraufgekommen, hatte Zeitung und Pfeife mitgebracht und ließ es sich gern gefallen, daß ihm Elisabeth eine Tasse des dampfenden Trankes einschenkte. Er wollte eben einen interessanten Artikel vorlesen, als draußen am Mauerpförtchen geläutet wurde. Zum Erstaunen aller trat, nachdem der kleine Ernst geöffnet hatte, ein Bedienter vom Schlosse zu Lindhof ein und überreichte Elisabeth einen Brief. Er war von der Baronin Lessen. Sie begann damit, dem jungen Mädchen sehr viel Schmeichelhaftes zu sagen über sein vortreffliches Klavierspiel, das sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald seit einigen Abenden belauscht haben wollte, und knüpfte daran die Frage, ob Fräulein Ferber geneigt sei, natürlich unter vorher festzustellenden Bedingungen, wöchentlich einigemal mit Fräulein von Walde vierhändig zu spielen.
Der Brief war in sehr höflichem Tone gehalten; gleichwohl warf ihn der Oberförster, nachdem er ihn zum zweitenmal durchgelesen, unmutig auf den Tisch und sagte, Elisabeth scharf anblickend:
»Du gehst nicht darauf ein, wie ich denke?«
»Und warum nicht, lieber Karl?« fragte Ferber an ihrer Stelle.
»Weil Elisabeth nun