Alles machte sich fertig. Der Oberförster reichte seiner Schwägerin den Arm und fort ging es durch Hof und Garten. Draußen schloß sich ein Mann der Gesellschaft an; es war ein Maurer aus dem nächsten Dorfe, den der Oberförster bestellt hatte, um nötigenfalls bei der Hand zu sein.
Es ging ziemlich steil bergauf durch den dichten Wald, auf einem wenig betretenen engen Wege, der sich jedoch allmählich etwas erweiterte und endlich in einen kleinen, freien Platz auslief, hinter welchem sich, wie es schien, ein hoher, grauer Felsen erhob.
»Hier habe ich das Vergnügen,« sagte der Oberförster sarkastisch lächelnd zu dem erstaunten Ferber, »dir das Vermächtnis des hochseligen Herrn von Gnadewitz in seiner Herrlichkeit vorzustellen.«
Sie standen vor einer ungeheuren Mauer, die allerdings wie ein einziger Granitblock aussah. Von den Gebäuden, die hinter ihr lagen, konnte man schon deshalb keine Spur sehen, weil der Wald sich zu nahe herandrängte und dem Beschauer kein Zurücktreten gestattete. Der Oberförster schritt die Mauer entlang, deren Fuß dichtes Gestrüpp umwob, und machte endlich Halt vor einem mächtigen eichenen Thore, dessen oberer Teil in ein eisernes Gitter auslief. Hier hatte er tags zuvor das Gebüsch wegräumen lassen und zog nun einen Bund großer Schlüssel hervor, welche Frau Ferber gestern auf der Durchreise in L. in Empfang genommen hatte.
Es bedurfte bedeutender Anstrengung der drei Männer, ehe die verrosteten Schlösser und Riegel sich öffnen ließen. Endlich drehte sich das Thor krachend in den Angeln und wirbelte eine mächtige Staubwolke in die Höhe. Die Eintretenden befanden sich in einem auf drei Seiten von Gebäuden umschlossenen Hofraume. Ihnen gegenüber dehnte sich die imposante Front des Schlosses, zu dessen erstem Stocke von außen eine breite Steintreppe mit schwerfälligem Eisengeländer führte. Längs der Seitenflügel liefen düstere Kolonnaden, deren granitene Säulen und Bogen unüberwindlich der Zeit zu trotzen schienen. Inmitten des Hofes breiteten einige alte Kastanien ihre dürftigen Aeste über ein ungeheures Becken, in dessen Mitte vier steinerne Löwen mit aufgesperrtem Rachen lagerten. Früher mochten hier vier starke Wasserstrahlen aus den Tiefen der Erde emporgestiegen sein und das Bassin gefüllt haben; jetzt aber floß nur noch ein schwaches Brünnlein durch die dräuenden Zähne des einen Ungeheuers, gerade stark genug, um die naseweisen Grashalme zwischen den Steinritzen des Beckens zu bespritzen und durch sein leises, melancholisches Rieseln einen schwachen Schein von Leben in die Wüstenei zu hauchen. Die äußeren Mauern der Gebäude und die Säulengänge waren das einzige in diesem Raume, an welchem der Blick ohne Angst haften konnte. Die aller Glasscheiben beraubten Fensterhöhlen zeigten eine greuliche Verwüstung im Innern. In einigen Zimmern waren die Decken bereits eingestürzt, in andern bogen sich die Balken hernieder, als wollten sie bei der leisesten Berührung zusammenbrechen. Die äußere Treppe hing drohend halb in der Luft; einige schwere, grünbemoste Steine hatten sich bereits gelöst und waren bis zur Mitte des Hofes gerollt.
»Hier ist nichts zu machen,« sagte Ferber, »gehen wir weiter.«
Durch einen tiefen, finsteren Thorweg traten sie in einen zweiten Hof, der, obgleich bei weitem größer als der erste, doch einen noch viel unheimlicheren Eindruck machte, und zwar durch seine Unregelmäßigkeit. Hier trat ein zusammensinkender, düsterer Bau weit in den Hof herein und bildete eine dunkle Ecke, in die kein Sonnenstrahl fiel; dort stieg ein dumpfer Turm in die Höhe und warf einen tiefen Schatten auf den hinter ihm liegenden Flügel. Ein alter Holunderbusch, der in einer Ecke kümmerlich sein Leben fristete, und dessen Blätter mit herabgefallenem Mörtel bedeckt waren, sowie einzelne graue Gräser zwischen dem Pflaster ließen die Oede noch trauriger erscheinen. Kein Laut unterbrach die Totenstille, die hier waltete; selbst eine Dohlenschar, die drüben das heitere Blau des Himmels durchschnitt, flog lautlos vorüber, und deshalb klang den Eintretenden das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem hallenden Steinpflaster fast gespenstisch.
»Da haben nun,« sagte Ferber, ergriffen von dem Anblicke des Verfalles ringsum, »die alten, gewaltigen Herren Steinmassen aufgehäuft und gemeint, die Wiege ihres Geschlechts werde, fest und unzerstörbar, durch alle Zeiten den Ruhm ihres Namens verkünden. Ein jeder hat sich, wie der verschiedene Baustil zeigt, das Erbe nach Bedürfnis und Geschmack eingerichtet, als ob da nie ein Ende kommen könne …«
»Und doch wohnte er nur ein kleines Weilchen zur Miete,« unterbrach ihn der Oberförster, »und mußte es sich zuletzt sogar gefallen lassen, daß der große Hausherr, die Erde, ihn selbst mit Haut und Haar als Mietzins einforderte … Doch gehen wir weiter … Brr, mich friert … hier ist Tod, nichts als Tod!«
»Nennst du das Tod, Onkel?« rief plötzlich Elisabeth, die bis dahin beklommen geschwiegen hatte, indem sie nach einem Thorbogen zeigte, der halb von einem vorspringenden Pfeiler bedeckt wurde. Dort hinter einer Gitterthür schimmerte sonnenbeschienenes Grün, und junge Heckenrosen schmiegten ihre Köpfchen an die Eisenstäbe.
Elisabeth war mit wenigen Sprüngen an der Thür, die sie mit einem kräftigen Rucke aufstieß. Dieser ziemlich große, freie Platz, vor dem sie stand, mochte wohl ehemals den Garten vorgestellt haben – jetzt konnte man die grüne Wildnis unmöglich noch so nennen, denn nicht ein fußbreit Weges war zu entdecken, kaum daß hier und da der verstümmelte Kopf einer Statue unter dem Gewirre von Stauden, Gesträuchen und Schmarotzerpflanzen erschien. Die wilde Weinrebe lief in dicken Strängen bis an das obere Stockwerk der Gebäude, rankte sich an den Fenstersimsen fest und fiel von dort wie ein grüner Regen wieder auf die blühenden wilden Rosen und Fliedersträuche hernieder. Es war ein Schwirren und Summen aus diesem abgeschiedenen, blühenden Fleckchen Erde, als ob der Frühling seine ganzen geflügelten Heerscharen hier versammelt hielte. Zahllose Schmetterlinge flatterten durch die Luft, und über die riesigen Fächer der Farnkräuter zu Elisabeths Füßen liefen geschäftig goldglänzende Käfer. Ueber all dies Blühen und Treiben erhoben einige Obstbäume und mehrere schöne Linden ihre Kronen, und auf einer kleinen Anhöhe lagen die Ueberreste eines Pavillons.
Der Garten war auf drei Seiten von zweistöckigen Gebäuden umgeben, und das Viereck des Raumes wurde durch eine Art hohen Dammes vervollständigt, über den die Wipfel der Waldbäume hereinsahen. Auch hier trugen die Baulichkeiten das Gepräge des Verfalles; abermals ziemlich gut erhaltene Mauern nach außen, doch vollständige Verwüstung im Innern. Nur ein zwischen zwei hohe Flügel eingeklemmter, einstöckiger Bau fiel auf durch sein dunkles Aussehen. Er war nicht durchsichtig, wie die anderen decken-und thürenlosen Gebäude; das flache Dach, das an beiden Seiten schwere Steingeländer hatte, mußte Sturm und Wetter Trotz geboten haben, wie die grauen Fensterläden auch, die hier und da unter dem Wuste von Schlingpflanzen hervorsahen. Der Oberförster meinte mit prüfendem Blicke, dies sei höchst wahrscheinlich Sabines berühmter Zwischenbau; möglicherweise sei er innen nicht so despektierlich zugerichtet, wie die anderen Baulichkeiten; nur begreife er nicht, wie man zu dem angeklebten Schwalbennest gelangen könne. Allerdings war weder von Treppen noch Thüren eine Spur zu sehen, was freilich schon durch das undurchdringliche Gebüsch am Erdgeschosse unmöglich wurde. Man beschloß deshalb, das Besteigen einer ausgetretenen, aber noch ziemlich festen Steintreppe in einem der großen Flügel zu wagen und so auf das Ziel loszusteuern. Es gelang, wenn auch unter beständigem Anklammern an die unebene Mauer. Sie kamen zuerst durch einen großen Saal, der den blauen Himmel als Decke und einige grüne Büsche droben auf den Mauern als einzigen Schmuck aufzuweisen hatte. Zertrümmerte Balken, Dachsparren, einzelne Plafondstücke mit Ueberresten von Malerei bildeten ein grauses Gemisch, über das die Suchenden hinwegklettern mußten. Dann folgte eine Reihe von Zimmern, in demselben Zustande der Zerstörung. An einigen Wänden hingen noch Fetzen von Familienbildern, die oft, schauerlich und komisch zugleich, nur ein Auge, ein Paar gekreuzter, bleicher Frauenhände oder einen theatralisch vorgestreckten, schienenbekleideten Männerfuß zeigten. Endlich hatten sie den letzten Raum erreicht und standen vor einem hohen Thürbogen, der mit Ziegelsteinen vermauert war.
»Aha!« sagte Ferber, »hier hat man den Zwischenbau abzuschließen gesucht von der allgemeinen Zerstörung. Ich meine, ehe wir noch länger die halsbrechende Arbeit des Suchens fortsetzen, wäre es gescheiter, die Steine herauszunehmen.«
Der Vorschlag fand Beifall, und der Maurer begann sein Werk; er drang in