»Wie kann man ein so zauberhaftes Schloß bewohnen, ohne sich dessen würdig zu erweisen?« murmelte Solita, und es bestand kein Zweifel, daß ihre abfällige Bemerkung dem Herzog galt.
Der Fremde zwinkerte belustigt, während sie das schmiedeeiserne Tor passierten und eine sich daran anschließende lange Eichenallee entlangfuhren. Schließlich überquerten sie eine Brücke, die über einen See führte. Danach ging es eine Anhöhe hoch bis zum Schloß.
»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie mich hierhergebracht haben, Sir«, sagte Solita artig. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, daß ich den weiten Weg nicht zu Fuß zurücklegen mußte.«
»Dann hätten Sie wohl etwas länger gebraucht, um Ihr Ziel zu erreichen«, bemerkte der Gentleman trocken.
»Vielen, vielen Dank!«
Da er noch immer die Zügel in der Hand hielt, machte Solita keine Anstalten, sich mit einem Händedruck von ihm zu verabschieden.
Mit Hilfe eines Lakaien, der über die Freitreppe herbeigeeilt war, stieg sie aus dem Phaeton und ging über die mit einem roten Läufer bedeckten Stufen nach oben.
Erst als sie etwa auf der Mitte der Freitreppe angelangt war, merkte sie, daß der Gentleman ihr gefolgt war.
Er holte sie ein und schritt neben ihr die Stufen hoch.
»Willkommen daheim, Euer Gnaden!« begrüßte ihn der Butler am Schloßportal.
Solita zuckte zusammen und warf ihrem Begleiter einen vorwurfsvollen Blick zu.
Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, sagte der Herzog zu seinem Butler: »Die junge Dame, die ich mitgebracht. habe, will sich nach der langen Reise sicher etwas frisch machen, Dawson. Wir nehmen dann den Tee im Blauen Salon ein.«
»Sehr wohl, Euer Gnaden.«
Der Butler trat neben Solita und sagte respektvoll: »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Madam!«
Er schritt vor ihr die Treppe hoch. Verwirrt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, folgte sie ihm.
»Wie hätte ich ahnen sollen, daß der Herzog mit dem Zug reist wie ein ganz gewöhnlicher Fahrgast?« murmelte sie leise bei sich.
Sie war davon ausgegangen, daß in England jeder Herzog einen Privatzug besaß oder zumindest einen eigenen Luxuswagen, der an den Expreß angehängt wurde. Außerdem wäre ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß jede auf der Bedarfsstation aussteigende Person zum Schloß gehören oder gar der Herzog selbst sein könnte.
Eine Haushälterin geleitete sie zu einem prunkvollen Schlafzimmer. Nachdem sie sich die Hände gewaschen und das Haar geordnet hatte, führte die Frau sie zum oberen Treppenabsatz zurück. Unten in der Halle wartete bereits der Butler auf sie.
Die Haushälterin hatte ihr geraten, den Hut abzulegen. Da Solita nach allem, was sie über den Herzog geäußert hatte, mit einem Hinauswurf rechnete, behielt sie den Hut jedoch in der Hand. Wie konnte ich nur so töricht sein, mich so ungebührlich über ihn zu äußern? schalt sie sich.
Doch im Grunde hatte sie ohnehin vorgehabt, dem Herzog all das vorzuwerfen, was er nun bereits wußte. Was machte es also aus, auf welche Weise er es erfahren hatte? Krampfhaft überlegte sie, wo sie übernachten sollte, wenn er ihr im Zorn die Tür weisen würde. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, daß es ihr ohne Begleitperson schwerfallen würde, ein anständiges Hotel zu finden.
Eins nahm sie sich jedoch fest vor, während sie langsam die Treppe hinabstieg: Sie würde sich vom Herzog nicht einschüchtern lassen.
Schließlich war es allein seine Schuld, daß sie hier war.
Der Butler lächelte sie freundlich an.
»Seine Gnaden erwarten Sie im Blauen Salon, Madam«, sagte er. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Er führte sie einen stilvoll ausgestatteten Gang entlang, öffnete dann eine Tür und ließ sie eintreten.
Der Herzog stand vor dem Kamin und wirkte sehr furchteinflößend auf Solita. Sie ging langsam auf ihn zu und blitzte ihn herausfordernd an.
»Vermutlich müßte ich mich jetzt entschuldigen«, sagte sie, »aber Sie haben sich seit unserer letzten Begegnung so verändert, daß ich Sie unmöglich erkennen konnte.«
»Seit unserer letzten Begegnung?« fragte der Herzog. »Wann war das?«
Trotz des Unbehagens, das sie empfand, mußte Solita lächeln.
»Das ist zehn Jahre her. Ich war noch ganz klein; und Sie haben mit mir gelacht und gescherzt, und ich dachte, ich könnte Ihnen vertrauen.«
Der Herzog sah sie verständnislos an.
»Vor zehn Jahren, sagen Sie?«
Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
»Sie sind doch nicht etwa Charles Greshams Tochter?« fragte er.
»Doch, das bin ich. Ich bin Solita Gresham, das Mädchen, das Sie völlig vergessen haben.«
»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit«, erwiderte der Herzog. »Aber warum sind Sie hier? Was ist aus meiner Cousine Mildred geworden?«
»Ihre Cousine Mildred, der Sie von dem Tage an, da sie mich zu sich nahm, keinerlei Beachtung mehr geschenkt haben, starb vor einem Monat.«
»Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Außer mir gibt es niemanden, der Sie informieren konnte«, entgegnete sie. »Als ich feststellen mußte, daß ich kein Geld besaß, reiste ich nach England, um Sie nach dem Verbleib der Hinterlassenschaft meines Vaters zu fragen.«
Der Herzog schüttelte ungläubig den Kopf.
»Mir ist das alles völlig unbegreiflich«, sagte er. »Nachdem ich Sie bei meiner Cousine untergebracht hatte, traf ich Vorkehrungen, regelmäßig einen Betrag vom Erbe Ihres Vaters zu überweisen und Ihr Schulgeld davon zu bezahlen!«
»So viel mir bekannt ist, hat Ihre Cousine keinen Penny erhalten«, entgegnete Solita, »und alles selbst bezahlt.«
»Ich glaube kaum, daß das wahr ist.«
»Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht behelligt hätte, wäre mir nicht mitgeteilt worden, daß Ihre Cousine ihr Geld von einer Stiftung erhielt und diese Zuwendung mit ihrem Tode erlosch.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie völlig mittellos sind?«
»Ich habe den gesamten Schmuck, den ich im Laufe der Jahre von Ihrer Cousine geschenkt bekam, verkauft, um die Überfahrt nach England zu bezahlen.«
»Da muß ein bedauerliches Versehen vorliegen«, sagte der Herzog betroffen, »und meine einzige Entschuldigung ist, daß ich sofort nach meiner Rückkehr aus Neapel mit einem Bataillon meines Regimentes zu den Westindischen Inseln abkommandiert wurde.«
Ihm fiel wieder ein, daß Solita ihn damals zum Abschied umarmt und geküßt hatte.
Sie war ein reizendes Kind von acht Jahren gewesen, und er hatte vor seiner Abreise noch einmal bei ihr vorbeigeschaut.
Während er sich all das ins Gedächtnis zurückrief, begriff er auch, weshalb sie sich so abfällig über ihn geäußert hatte.
Charles Gresham war Hauptmann in der Armee gewesen und er selbst Offiziersanwärter. Gresham hatte sich gleich nach ihrem. Eintreffen in Indien mit ihm angefreundet, weil sie viele gemeinsame Interessen hatten.
Sie waren an die Nordwestgrenze versetzt worden. Greshams Frau und seine Tochter mußten in der Garnison im Landesinneren zurückbleiben.
Sie hatten blutige Kämpfe gegen kriegerische Stämme ausgefochten.
Die in Afghanistan befindlichen Russen hatten diese Männer gegen die Engländer aufgehetzt. Während eines nächtlichen Überfalls, auf den sie nicht vorbereitet waren, war der Feind in der Überzahl gewesen.
Charles