Leidenschaft Fußball
Für den Gymnasiasten war indessen das Fußballspiel zur größten Leidenschaft seines Lebens geworden. Er durfte in der Jugendmannschaft eines Spitzenvereins aus der ersten Liga der Fußballmeisterschaft spielen. Viermal in der Woche ging er zum Training und verbrachte 90 Prozent seiner Freizeit auf dem grünen Rasen. Es seien damals die schönsten Jahre für ihn gewesen, obwohl er »kein besonderes Talent als Fußballspieler« aufwies und sich sehr anstrengen musste, um in den Kader der Jugendmannschaft aufgenommen zu werden.
Wenn er auch um seine letztlich begrenzten Fähigkeiten auf diesem Feld wusste und sich als Mittelstürmer nicht überschätzte, pflegte er stets ein intensives, unverkrampftes und natürlich medienwirksames Verhältnis zum Fußball. In der Mittelschule verstand er, dass man im Fußball auch aufsteigen kann, wenn man von unten kommt. Der Fußball bietet auch gesellschaftlich eine Möglichkeit, Grenzen zu verschieben, Chancen zu testen und als Gleicher unter Gleichen die Kräfte zu messen. »Wir führten im Gymnasium ein viel zu einförmiges Leben. Das war in der Fußballmannschaft anders; da gab es die unterschiedlichsten Menschen: reich, arm, dumm, gescheit. Gleichzeitig bildete sie eine sehr gute Gemeinschaft von Freunden. Das Spiel brachte Menschen aus den verschiedensten Schichten zusammen. Wann immer ich eine Mannschaft wechselte, wechselte ich auch die Kulturen.«
Unter den Freunden in der Mittelschule war für Viktor mit Abstand der um drei Jahre ältere Lajos Simicska der wichtigste. Dieser kam von ganz unten. Kaum ein anderer Schüler hat so früh so tief geblickt wie er. Seine Familie war so arm, erzählt Simicska, dass er Kohle stehlen musste, um die Familie vor dem Erfrieren zu retten. Sein Vater, ein Metallarbeiter, sei wegen seiner Rolle als Sekretär des betrieblichen Arbeiterrates während des 1956er-Aufstandes nachher moralisch und physisch zugrunde gerichtet gewesen. Der offen antikommunistisch eingestellte Simicska wurde wegen seines rebellischen Auftretens einmal aus seiner Klasse hinausgeworfen; deshalb war er nun um zwei Klassen über Viktor und seinen Altersgenossen. Sie alle hatten Simicska als Sturmbock bewundert. Laut Orbán habe Simicska über ein »fantastisches Gehirn verfügt; er ist der Klügste von uns allen« gewesen. Er trat nur deshalb dem Kommunistischen Jugendverband bei, um die Aufnahme an die Universität zu schaffen. Schließlich hat Simicska gleichzeitig mit dem Jahrgang Orbáns und seiner Freunde das Universitätsstudium an der Rechtsfakultät angefangen und auch abgeschlossen.
Freunde fürs Leben
Sie waren auch zusammen Soldaten. Die an der Universität aufgenommenen Maturanten mussten nämlich zuerst für fast ein Jahr ihren Militärdienst absolvieren. Für die künftigen Studenten war der Militärdienst eine besonders harte Prüfung, weil sie von den anderen Rekruten und vor allem von den Unteroffizieren und Offizieren als »Privilegierte« betrachtet und auch gequält wurden. Für Viktor Orbán waren diese Monate vor allem wegen der Beschränkung seiner persönlichen Bewegungsfreiheit kaum erträglich, weil er dadurch immer Gefahr lief, wichtige Spiele während der Fußballweltmeisterschaft zu verpassen. Wegen unerlaubten Ausgangs oder Fernbleibens vom Dienst wurde er mehrmals zu je drei Tagen Kerker verurteilt. Einmal musste der aufsässige Orbán sogar für zehn Tage hinter Gitter, weil er einen Gefreiten im Zuge einer persönlichen Auseinandersetzung geohrfeigt hatte.
Obwohl er sich damals politisch noch nicht engagierte, bedeutete diese Zeit doch emotional eine Wende in seinem Leben, da er zum ersten Mal hautnah mit der Brutalität der militärischen Maschinerie und zugleich mit der Primitivität der Indoktrinierung zur Rechtfertigung des Systems konfrontiert wurde. Diese Erfahrungen bereiteten den Boden für die spätere politische Aktivität und für die Wandlung zu einem bewussten Gegner der Parteidiktatur. In diese Zeit fiel auch der Versuch des überall und erst recht in der Armee besonders aktiven Geheimdienstes, Viktor Orbán als Informanten zu gewinnen. Er hat zwar abgelehnt, doch seinen Freunden davon nichts gesagt. Erst nach einer diesbezüglichen Pressemeldung im Juni 2005 hat Orbán das Dokument aus dem Archiv des Staatssicherheitsdienstes veröffentlicht, wonach »der Versuch erfolglos« gewesen sei.
Sein Freund Simicska galt auch während des Militärdienstes wegen seiner kritischen Haltung zu den sowjetischen Versuchen, die gewerkschaftliche Opposition in Polen zu unterdrücken, als schwarzes Schaf. Eine ganze Reihe von späteren Fidesz-Politikern, so auch seine engsten Freunde in der Studentenzeit, wie Gábor Fodor und László Kövér, haben in der Armee ähnliche Erfahrungen wie Orbán gemacht. Der aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie stammende und fast vier Jahre ältere Kövér, der stets zu übertriebenen Formulierungen neigt, hat einmal in einem Rückblick auf seine Soldatenzeit die Armee sogar als »Mini-Auschwitz« bezeichnet!
Die am Anfang dieses Kapitels erwähnte Gruppenbildung fiel zeitlich mit der politischen Aktivität in der Studentenvertretung an der Rechtsfakultät und vor allem mit der Einrichtung des Bibó-Kollegiums7 für Jusstudenten 1983 zusammen. Nicht an der Universität, sondern in diesem Kollegium entstand ein Netzwerk von persönlichen und politischen Freundschaften, das direkt und indirekt nicht nur die Karriere der einzelnen Figuren, sondern durch ihren späteren Aufstieg die ganze politische Landschaft des postkommunistischen Ungarn geprägt hat. Dass Orbán zuerst mit Simicska und dann fast zwei Jahre mit Gábor Fodor das Zimmer im Kollegium in der Ménesi-Straße 12 in Buda geteilt hat, bedeutete eine intime Kenntnis voneinander, die die persönlichen Reaktionen im Wechselspiel von Zusammenarbeit, Rivalität und Feindschaft der folgenden Jahrzehnte immer wieder mitbestimmt hat. Auch heute wohnen dort zu zweit oder zu dritt in den nur etwa zwölf Quadratmeter großen Zimmern 60 Studenten und Studentinnen, die monatlich rund 12.000 Forint (etwa 40 Euro) für die Benützung der Zimmer zahlen müssen.
Dass diese Insel der Autonomie und Selbstbestimmung in den Achtzigerjahren existieren, ja sogar blühen konnte, verdankten die Studenten vor allem drei Faktoren: den allgemeinen Reformen und Lockerungen in der Spätphase des Kádár-Regimes, der Tatsache, dass der Direktor des Kollegiums, der nur um fünf Jahre ältere István Stumpf, selber Reformer war und als Schwiegersohn des mächtigen, langjährigen Innenministers István Horváth über einen persönlichen Spielraum verfügte, und nicht zuletzt der tatkräftigen Unterstützung durch den aus Ungarn stammenden Multimillionär George Soros, der ab 1986 das Kollegium und die politisch aktiven Studenten sowie ihre Zeitschrift »Századvég« mit namhaften Subventionen (Sprachkurse, Stipendien, Auslandsreisen und Druckkosten) förderte. Das Bibó-Kollegium befindet sich in jener zweistöckigen Villa mit großem Garten im vornehmen Viertel von Buda, die, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, vor dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie auch als Stätte der Begegnung für liberale und linke Intellektuelle diente.
Durch Vorträge und persönliche Kontakte haben Orbán, Fodor, Kövér und ihre Gesinnungsfreunde enge Kontakte mit den intellektuellen und politischen Wortführern der linksliberalen Opposition geknüpft. Die Kontakte, intensiviert durch gemeinsames Fußballspiel und familiäre Bande zwischen den einstigen Gymnasiasten, Rekruten und Zimmernachbarn, blieben auch nach dem Abschluss des Studiums engmaschig. Orbán war nicht zufällig bald nach der Gründung des Kollegiums, bereits 1984, 21-jährig zum Vorsitzenden des Leitungsausschusses der 60 Studenten gewählt worden.
»In der Politik geht es erstens um Macht, zweitens um Macht, und drittens um Macht.« Diese Aussage des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel ist nach wie vor uneingeschränkt gültig, meint der Soziologe Rainer Paris: »Führen kann deshalb nur, wer auch führen will, wer also, selbst wenn er dazu gedrängt wurde, sich von einem bestimmten Moment an grundsätzlich dazu entschließt und die Führerrolle offensiv annimmt und bejaht.«8
Der absolute Wille zur Macht hat das Charakterbild Viktor Orbáns schon als Studentenführer und während seiner ganzen politischen Karriere geprägt, auch wenn er es vermochte, nicht zuletzt dank willfähriger medialer Vermittlung, überwiegend nur als