Bei der höchsten Wahlbeteiligung seit der Wende mit 72 Prozent konnte das linksliberale Lager einen knappen Sieg erringen, nicht zuletzt deshalb, weil die Liberalen (SzDSz) die Fünf-Prozent-Hürde übersprangen. Das Resultat – 188 Mandate für den Fidesz, 178 für die MSzP und 20 für den SzDSz – war zweifellos ein gewaltiger Schock für Orbán und seine Mannschaft. Ich selbst habe diese Tage der Spannung, die Ausbrüche der Verzweiflung und die Drohungen wegen eines angeblichen Wahlschwindels in Budapest und als Teilnehmer bei Fernsehdiskussionen erlebt. Von Rachsucht getrieben, forderten Orbáns publizistische Einpeitscher Vergeltung für den »gestohlenen Sieg«. In seinem letzten großen Interview zum Abschluss der ersten Orbán-Biografie (am 4. Mai 2002) mit József Debreczeni wies Orbán nach der Wahlniederlage den Vorwurf der übertriebenen Konfrontation brüsk zurück. Im Gegenteil, er sei nicht hinreichend geschickt bei der Konfrontation und überhaupt nicht hart genug bei der Führung der Regierung gewesen. Man hätte sich durch die Schaffung von neuen Zeitungen und elektronischen Medien mehr Informationskanäle beschaffen sollen. Seine Kernaussage lautete: Nicht die Regierungspolitik sei falsch gewesen, sondern die Kommunikation der Absichten und Entscheidungen sei »nicht effizient genug, subtil genug und differenziert genug« gewesen.
Orbáns Hinwendung zum Glauben
Dieses merkwürdige Interview lässt auch rückblickend erkennen, dass der Schock der Niederlage den 39-jährigen Verlierer nicht nur nicht entmutigt, sondern im Gegenteil mit neuem Tatendrang erfüllt hat. In diesem Zusammenhang muss man auch eine erst ein Jahrzehnt später bekannt gewordene Episode aus der Zeit der 2002 verlorenen Wahl erzählen. In der von der Fidesz-Führung wohlwollend unterstützten und von der umstrittenen Historikerin und früheren Chefberaterin des Ministerpräsidenten Mária Schmidt lektorierten Orbán-Biografie beschreibt der polnische Journalist Igor Janke die folgende Szene, die sich im VIP-Raum des Millenáris-Parks in Buda abgespielt hat:16
Am späten Abend des 7. April 2002, nach der Veröffentlichung der Resultate des ersten Wahlganges, als sich die völlig unerwartete Niederlage des Fidesz schon abzeichnete, waren nur die tief erschütterten altgedienten Kampfgefährten anwesend. Da sagte Orbán: »Lasset uns beten.« Und die einstigen antiklerikalen Rebellen, die sich noch 1992/1993 im Parlament über die »Pfaffen« mokiert hatten, gegen die Einführung des Religionsunterrichts in den Schulen und die Rückerstattung des Kirchenvermögens protestiert hatten, beteten nun alle gemeinsam.
Die politischen Gegner haben auf die Reden und die Geschichten über die öffentliche Wandlung des jungen Politikers zu einem tiefgläubigen Menschen in den späten Neunzigerjahren mit Spott reagiert. Über seinen langen Weg zum Glauben hat sowohl Orbán selbst als auch der calvinistische Pastor Zoltán Balog, der ihn (abgesehen von seiner Frau, Anikó Lévai, einer gläubigen Katholikin) am stärksten beeinflusst hat, mehrmals in Reden und Interviews gesprochen. »Ich habe keinerlei religiöse Erziehung gehabt … Ich bin in einer ungläubigen Umgebung aufgewachsen«, bekannte Orbán. Er war zwar getauft worden, aber von einer Konfirmation – das Zeichen der christlichen Reife und des persönlichen Bekenntnisses zum Glauben – konnte keine Rede sein. Er wollte auch keine kirchliche Ehe mit Anikó, sie hatten 1986, beide Studenten, standesamtlich geheiratet.
Mit der sich abzeichnenden Abkehr vom Liberalismus und der Zuwendung zu den nationalkonservativen Ideen wurden die Kontakte und Begegnungen mit kirchlichen Würdenträgern intensiviert. Balog wurde zum wichtigsten Kontaktmann zu den katholischen und protestantischen Kirchen. Bereits bei den politischen Versammlungen zur Präsidentenwahl und bei der Deklaration für ein bürgerliches Ungarn saßen die Bischöfe in der ersten Reihe. Balog erzählte dem polnischen Orbán-Biografen Igor Janke, dass der Fidesz-Politiker nach einer Begegnung mit dem Erzbischof von Eger und Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz 1992 Folgendes zu ihm gesagt habe: »Ich war mir nicht bewusst, dass die Kirche so wichtig ist, ein so wichtiger Teil des ungarischen Lebens. Ich kann nicht gut politisieren, wenn ich das nicht begreife.« Schließlich wurde die Bekehrung zum Glauben durch die um mehr als zehn Jahre verspätete kirchliche Eheschließung mit Anikó Lévai 1997 gekrönt.
Eine seiner ersten Auslandsreisen als Ministerpräsident führte Orbán in den Vatikan, wo Papst Johannes Paul II. ihn empfing. Die nächste wichtige Etappe war das Jahr 2000, als der 37-jährige Ministerpräsident nach einem halben Jahr wöchentlicher Abendgespräche mit Pastor Balog über Glaubensfragen von dem zum Freund gewordenen Geistlichen konfirmiert wurde. Erst fünf Jahre später sprach er öffentlich über die Kraft des Glaubens.
In der Nacht der Wahlniederlage soll er sich noch lange mit Zoltán Balog über die Kraft durch Glauben unterhalten haben. Dann sagte er bei einer Veranstaltung am 21. April 2002 im Millenáris-Park: »Wer Glauben, Hoffnung und Liebe in sich trägt, dem werden auch die Schwierigkeiten zum Heil … Nur einen Menschen, der seinen Glauben verloren hat, kann man besiegen.« Fünf Jahre später stellte er bei einer öffentlichen Adventfeier in der kleinen Stadt Kaposvár fest: »… Natürlich ist man durch die Gesetze eingeschränkt, das Parlament gibt Grenzen vor, die Macht ist geteilt, aber die äußerste Schranke ist nichts anderes als die Gottesfurcht. Diese ist über alle Gesetze, über die ganze Machtteilung und die Verfassung hinaus die äußerste Schranke jenes gefährlichen Betriebs, den wir Macht nennen.«
Selbst der Orbán-freundliche polnische Biograf Janke sagt über seine Politik gegenüber der Kirche: »In seinen Tätigkeiten war das Abwägen der Chancen immer präsent und ist es noch immer. Die Politik gab ihm den Anstoß zur Annäherung an die Kirche.« Janke fügt zur Analyse der Wandlung Orbáns hinzu, es sei schwierig, heute einen Politiker zu finden, der mit einer ähnlichen Offenheit wie Orbán darüber spreche, welche Rolle in seinen Aktivitäten und politischen Kämpfen der Glaube spielt. In seinem umfangreichen zweibändigen Leitfaden zu Orbáns wechselvoller politischer Taktik und Strategie kommt József Debreczeni allerdings zu einer etwas anderen Schlussfolgerung: »Viktor Orbán ist jener Mann, der fast automatisch an die Wahrhaftigkeit dessen glaubt, was er als politisch nützlich betrachtet.«
Erst acht stürmische Jahre später erlebten Ungarn und ein staunendes Europa, welche Schlüsse diese hochbegabte und komplexe Persönlichkeit aus dem vorübergehenden Verlust der Macht zog. Als ein zu allem entschlossener Oppositionsführer bewirkte indessen Viktor Orbán nach der unerwarteten und schmerzlichen Niederlage, mehr als jeder andere ungarische Politiker seit der Wende, eine politisch und moralisch, wirtschaftlich und kulturell verhängnisvolle Polarisierung in der ungarischen Gesellschaft.
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