Paul Lendvai
ORBÁNS UNGARN
Überarbeitete und erweiterte Auflage
ISBN 978-3-218-01261-4
eISBN 978-3-218-01048-1
Copyright © 2021 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
Unter Verwendung eines Fotos von Dieter Nagl/AFP/picturedesk.com
INHALT
KAPITEL 1: Die Rolle der Persönlichkeit
KAPITEL 2: Der Aufsteiger von ganz unten
KAPITEL 3: Glanz und Elend eines Jungpolitikers
KAPITEL 4: Der Weg zum ersten Sieg
KAPITEL 6: Die Totengräber der Linken
KAPITEL 7: Megaskandal um Gyurcsánys »Lügenrede«
KAPITEL 8: Orbáns Sieg im Kalten Bürgerkrieg
KAPITEL 10: Die neue Landnahme
KAPITEL 11: Das Ende der Gewaltenteilung
KAPITEL 12: Der nationale Freiheitskampf
KAPITEL 13: Ein fragwürdiger Wahlsieg
KAPITEL 14: Der Preis für die »Orbánisierung«
KAPITEL 15: Macht und Geldgier der Günstlinge
KAPITEL 16: Die Mächtigen des Hofstaates
KAPITEL 17: Ungarns »Führerdemokratie«
KAPITEL 18: Orbáns Rolle in einem zerfallenden Europa
VORWORT
zur überarbeiteten und erweiterten Auflage
Ich habe das Angebot von Kremayr & Scheriau zur Herausgabe einer überarbeiteten und erweiterten Neuauflage dieser vor viereinhalb Jahren erschienenen Biografie Viktor Orbáns aus mehreren gewichtigen Gründen angenommen.
Erstens ist es ihm gelungen, seine Machtposition sowohl national wie auch international so stark auszubauen, dass seine Regierung heute als der gefährlichste Störenfried in der gespaltenen und seit dem Ausscheiden Großbritanniens geschwächten Europäischen Union gilt. Das ungarisch-polnische Bündnis der beiden rechtspopulistischen und nationalistischen Regierungsparteien, oft unterstützt, wenn auch nicht in allen Fragen, von den zwei anderen sogenannten Visegrád-Staaten Slowakei und Tschechien, bildet das größte Hindernis auf dem Weg zur engeren europäischen Zusammenarbeit.
Zweitens strebt Orbán seit seinem neuerlichen Wahlsieg im April 2018 nach der schrittweisen Liquidierung des Rechtsstaates und der Medienfreiheit auch die Kontrolle der Wissenschaftsund Kulturpolitik, des Familien- und Bildungswesens an. Nach einem Jahrzehnt der Orbán-Ära ist Ungarn laut dem US-Thinktank »Freedom House« bereits jetzt nur ein »halbfreier« Staat.
Drittens gilt das Land als der korrupteste EU-Mitgliedstaat nach Bulgarien und die Bereicherung der Familie und der Freunde des absoluten Herrschers wird von den ungarischen Soziologen und Politologen als ein beispielloses Phänomen in der modernen ungarischen Geschichte betrachtet.
Die erste Auflage der Orbán-Biografie ist bisher ins Englische, Polnische, Rumänische, Slowenische und Ungarische übersetzt und im Dezember 2018 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet worden.
Auch dieses Buch wäre ohne den stilistischen Beistand von Barbara Köszegi und die geduldige und so wertvolle Hilfsbereitschaft meiner Frau Zsóka kaum zeitgerecht zustande gekommen. Ihnen beiden gebührt mein aufrichtiger Dank.
Wien, im Winter 2020
Kapitel 1
DIE ROLLE DER PERSÖNLICHKEIT
Wie wichtig sind Personen und Persönlichkeiten in der Politik? Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krisen, der Folgewirkungen des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden Völkerwanderung zeigen die Meinungsumfragen in den demokratischen Staaten, zusammen mit einem großen Unbehagen und mit der Kritik an der parlamentarischen Diskussion, stets auch eine große Sehnsucht nach dem »starken Mann«. Der menschliche Faktor bleibt schwer fassbar, ja unberechenbar, doch ohne ihn sind alle historischen Betrachtungen unvollständig. Nicht nur in weltgeschichtlichen Situationen, sondern auch in der jüngsten mittel- und osteuropäischen Geschichte waren und sind die Konflikte zwischen den Kräften der Beharrung und jenen der Reform, zwischen Öffnung und Abkapselung zuweilen mit geradezu dramatischen Wandlungen der politischen Führungspersönlichkeiten verbunden.
Die Devise »Männer machen Geschichte« entspringt dem Heldenkult, wie ihn der seinerzeit sehr populäre schottische Historiker Thomas Carlyle definiert hat: »Die Weltgeschichte ist nichts als die Biografie großer Männer.« Laut dem deutschen Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel hingegen ist der Welt- und Zeitgeist viel entscheidender als Person und Persönlichkeiten. Karl Marx und Friedrich Engels meinten, Politik sei abhängig von den materiellen Bedingungen der Produktion. Die Frage, welche Kräfte einen Spitzenpolitiker zu einer Handlung bewogen haben und welche Kräfte er in Bewegung gesetzt hat, also das Zusammenspiel von äußeren Umständen und persönlichem Handeln, stellt auch heute das zentrale Problem bei der Beschreibung und Bewertung politischer Persönlichkeiten dar.
Wenn man die nicht zu unterschätzende Rolle des persönlichen Elements bei wichtigen politischen