Damit stellte sich Pellegrino Artusi in eine Reihe mit anderen italienischen Patrioten, die ihre Kunst, ihr Wissen, ja ihr Leben dem Ziel widmeten, aus einer beträchtlichen Anzahl von kleinen und mittelgroßen Staaten ein geeintes Land zu schaffen.
Natürlich lässt sich heute, in einem klar definierten Europa, nur mehr schwer begreifen, welche Ziele der Nationalismus des 19. Jahrhunderts verfolgte. Dieser Nationalismus, der seit Napoleons Beutezug durch den gesamten Kontinent erwacht war, führte zu Kriegen, Revolutionen, blutrünstiger Gewalt, zu Katastrophen wie den »ethnischen Säuberungen« im 19. und im 20. Jahrhundert.
Von Ideen, wie sie Russland verfolgte, dem Panslawismus, oder irgendwelchen abstrusen pangermanischen Obsessionen, waren diese italienischen Aktivisten des Risorgimento weit entfernt. Einen »Panromanismus« hat es nicht gegeben. Artusi und seine Mitdenker wollten in einem Land leben, dessen Weg zu bestimmen ihre Sache und nicht die einer bestimmenden Schicht aus einem anderen Kulturkreis, von anderer Sprache war. So stand er also mit seinem Projekt »Küche und Sprache« an der Seite von Alessandro Manzoni, dem Dichter der »Verlobten«, und ebenso von Giuseppe Verdi.
Das Buch hatte zuerst bescheidenen, bald glänzenden Erfolg. Bis zu Artusis Tod im Jahr 1911 ist es in fünfzehn immer wieder verbesserten und erweiterten Auflagen erschienen. Da gibt es eigene Hinweise auf die Jahreszeiten, ja Monate, wann welche Rezepte am geeignetsten erscheinen, hier gibt es eine eigene Abteilung »Cucina per gli stomachi deboli«, Küche für schwache Mägen.
Es birgt nicht nur eine große Zahl von Rezepten aus allen Landschaften der Apenninen-Halbinsel, der Autor erweist sich auch als brillanter Erzähler. Da werden die Tafelgenossen beschrieben, denen er seine Erfahrungen verdankt, Typen von großer Vielfalt, aus dem Norden und Süden des Landes.
Und diese Vielfalt, der regionale Reichtum, ist es auch, was Italiens Küche prägt, weit mehr als die Tafel anderer Länder. Das ist einer der Vorteile der Jahrhunderte ohne Einheit – die Vielfalt in der Sprache wie in der Gastronomie. So kann es also keine »italienische Küche« geben, nur eine typisch toskanische oder lombardische oder sizilianische. Und dieser Reichtum wird verteidigt – vor allem durch eine Institution, die zu einer Zeit entstanden ist, als von Junkfood oder Fastfood noch keine Gefahr drohte.
Der österreichische Küchenwissenschaftler Christoph Wagner datierte den Beginn dieser Begriffe auf das Jahr 1972, als die New York Times sich mit dem Thema »Schnelles Essen« befasste. »Junkfood« taucht allerdings schon früher in Wörterbüchern auf, etwa um 1960.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Krise in der Gastronomie Italiens.
Wie in Wien das Kaffeehaussterben, das Aufkommen der neuen Espressos zu düsteren Prophezeiungen des kulturellen Endes führte, so »ertönte der Schmerzensschrei ›Die Küche Italiens stirbt!‹ in allen unseren Regionen«, so liest man es in alten Zeitungsberichten.
Am 29. Juli 1953 traf sich eine große Runde von Freunden im Hotel Diana in Mailand zum Abendessen. Sie alle hatten gesellschaftliches Gewicht, waren erfolgreiche Geschäftsleute, Journalisten, Künstler. So saßen auch ein prominenter Schriftsteller in der Tischgesellschaft, Dino Buzzati, und ein einflussreicher Verleger, Arnoldo Mondadori.
Zusammengerufen hatte sie Orio Vergani, ein Gastgeber von internationalem Ruf. Er entstammte einer Mailänder Künstlerfamilie und er wurde selbst schon als junger Journalist prominent, seine Sportreportagen waren von hoher literarischer Qualität. Mit einem avantgardistischen Theaterstück feierte er Triumphe, Vergani wurde auch berühmt als der »erste Fotojournalist Italiens«.
Aber an diesem Abend im Hotel Diana ging es ihm um ein anderes Projekt, das er schon länger mit sich getragen hatte. Er wollte die bedrohte Küche seiner Heimat retten. Und so gründete er mit seinen Freunden die Accademia Italiana della Cucina.
Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Qualität der Gastronomie Italiens kämpferisch zu bewahren. In ihren Selbstdarstellungen verwendet die Accademia den Begriff »difendere«, also »verteidigen.«
Die Generalversammlung am 30. März 2009 in Sanremo hat die Statuten neu festgelegt. In 29 Artikeln wird festgehalten, welche Ziele auf welche Weise zu erreichen sind. Zweck der Aktivitäten der Accademia ist es, die Tradition der italienischen Küche zu schützen und zu ihrer Verbesserung im In- und Ausland beizutragen. Ein Akademiemitglied darf folgenden Berufen nicht angehören: Koch, Wirt, Restaurantmitarbeiter, Cateringmitarbeiter oder Cateringunternehmer, Mitarbeiter von Kochschulen.
Das wichtigste Kochbuch, das die Akademie herausgegeben hat, »Cucina Italiana«, wird in seinem Vorwort noch deutlicher. Die Menschen heute seien beim Essen gehetzt, dem Pillenwahn verfallen, dem Diätkult ergeben. Und besonders die Tischgespräche seien gefährdet – »… sprühten diese einst bei den opulenten Mahlzeiten der Belle Époque von Witz und Geist, so drehen sie sich heute monoton um ein und dasselbe Thema – was dick macht und was nicht.«
In der Erinnerung an die Anfänge der Accademia erzählt ihr früherer Präsident Giovanni Nuvoletti Perdomini von der Ehrfurcht der Gründer »vor den Traditionen, dem Anliegen, den verschwenderischen kulturellen Reichtum unseres Landes zu verteidigen«. Und er klagt an: »Vor dem Hintergrund der geschändeten Kulturlandschaften eines verratenen Italien verlor sich allmählich ein weiterer Bestandteil unseres Kulturerbes, die Gastronomie, in der pseudo-internationalen Anonymität, die in Gestalt von dekadenten Fastfood-Produkten, Hamburgern, folienumschweißten Pizzen nach Wildwest-Manier und explosiven Cola-Getränken daherkam.« Und in der Tat hat man sich jahrelang mit Erfolg gegen die »folienumschweißten« Delikatessen von McDonalds zu wehren vermocht – bis am Ende der Kampf doch, in diesem einen Fall, verloren und das Lokal eröffnet war – und das ausgerechnet im historischen Zentrum von Rom, gleich bei der Spanischen Stiege. Aber der Kampf geht weiter.
Das Vorwort erinnert an den heiligen Thomas von Aquin, der der Kochkunst den Segen erteilte: »Diese Kunst ist die höchste, sie nährt die Sterblichen.« Und er zitiert auch den unvermeidlichen Dante: »Schau, wie zum Weine wird die Sonnenwärme, wenn sie sich mit dem Saft der Rebe bindet.« (Purgatorio 25, 77/78)
Der Präsident wird nicht müde, in seinem einleitenden Essay Italien, die Accademia und ihr vorliegendes Kochbuch zu loben: »Wir haben mit Bescheidenheit die immensen Schätze unserer Küche ausgebreitet, eben jene Schätze, die untrennbar unserem Wesen und also mit unseren italienischen Schätzen und Gebräuchen verbunden sind, geprägt von Einfachheit und Natürlichkeit.« Zuletzt rühmt er die Vielfalt, die wir der Vielzahl der unterschiedlichen Provinzen verdanken: »Denn schließlich sind unsere Provinzen oftmals nichts anderes, als die einstigen souveränen Staaten einer unvergleichlichen historischen Vergangenheit. Souverän auch in allen feinen Künsten des Lebens, in einem Land, voller Vielfalt und Fantasie, das in Geografie und Geschichte immer Klassenbester war … und unter uns gesagt, auch in der Kochkunst.«
Die Accademia Italiana della Cucina sieht sich als eine kulturelle Institution, die an die Zeit vor dem Faschismus anknüpft, an die Ideale des jungen Königreichs, ja die Gedanken Pellegrino Artusis wiederbelebt. Für viele Italiener gilt das Wort Umberto Ecos im Gedanken an die Jahre Mussolinis wie an die Berlusconis und die Wahlergebnisse, die zu den politischen Folgen geführt haben: »Jedes Volk hat einen Moment, da es den Verstand verliert.«
Um ihre Ziele zu erreichen, hat die Akademie sich eine Reihe von Instrumenten geschaffen. Es gibt Wettbewerbe und Auszeichnungen, eine Monatsschrift mit hoher Abonnentenzahl, ein Studienzentrum, eine Bibliothek. In Italien verfügt sie über 212, im Ausland über weitere 77 Gruppen, sie werden Delegationen genannt.
Dank dem Weitblick der Gründergemeinschaft von 1953 und ebenso dank dem seit