Ich spannte beide Hähne der Büchse und richtete den Lauf auf ihn. Hätte er sich bewegt oder versucht, sich von der Laufbrücke auf mich zu stürzen, ich würde ihn niedergeschossen haben. Aber er blieb unbeweglich stehen und starrte mich weiter an. Und wie ich ihm, die erhobene Büchse in den Händen, ins Gesicht blickte, hatte ich Zeit zu sehen, wie verstört und abgezehrt er aussah. Es war, als hätte eine furchtbare Gemütsbewegung es verwüstet. Die Wangen waren eingesunken, die Stirn war gerunzelt und sorgenvoll. Seltsam erschienen mir seine Augen, und zwar nicht nur im Ausdruck, sondern in ihrer physischen Beschaffenheit, als ob Sehnerven und Bewegungsmuskeln irgendwie beschädigt wären und die Augäpfel sich verrückt hätten.
Alles dies sah ich, denn da mein Hirn jetzt mit ungeheurer Schnelligkeit arbeitete, fuhren mir tausend Gedanken durch den Kopf, und doch konnte ich nicht abdrücken. Ich senkte die Büchse und trat an die Ecke der Kajüte, hauptsächlich um meine Nerven zu beruhigen und dann wieder zu zielen, aber auch, um näher an ihn heranzukommen. Wieder hob ich die Waffe. Ich war jetzt kaum mehr als Armeslänge von ihm entfernt. Es gab keine Hoffnung mehr für ihn. Ich hatte meinen Entschluß gefaßt. Es war unmöglich, ihn zu verfehlen, ein so schlechter Schütze ich auch sein mochte. Und doch kämpfte ich mit mir und konnte nicht abdrücken.
„Nun?" fragte er ungeduldig.
Ich versuchte vergebens, meinen Finger zu krümmen, und ebenso vergebens versuchte ich, ein Wort herauszubringen.
„Warum schießen Sie nicht?" fragte er.
Ich räusperte mich, konnte aber nicht sprechen.
„Hump", sagte er langsam. „Sie können es nicht. Sie sind ohnmächtig. Ihre Gesellschaftsmoral ist stärker als Sie. Sie sind ein Sklave Ihrer alten Anschauungen, der Gesetze, die Ihrem Schädel eingehämmert worden sind, seit Sie die ersten Worte stammelten, und all Ihrer Philosophie und meinen Lehren zum Trotz können Sie einen unbewaffneten, widerstandslosen Menschen nicht töten."
„Das weiß ich", sagte ich heiser.
„Und Sie wissen auch, daß ich einen Unbewaffneten ebenso leicht töten würde, wie ich eine Zigarre rauche", fuhr er fort. „Sie kennen mich und schätzen mich von Ihrem Standpunkt aus ein. Schlange, Tiger, Hai, Ungeheuer und Kaliban haben Sie mich genannt. Und doch können Sie mich nicht töten, Sie Waschlappen, wie Sie eine Schlange oder einen Hai töten würden, weil ich Hände, Füße und einen Körper habe, der dem Ihren ähnlich geformt ist. Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Hump!"
Er überschritt die Laufbrücke und trat zu mir. „Nehmen Sie das Gewehr herunter. Ich möchte einige Fragen an Sie richten. Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, mich umzuschauen. Was für ein Ort ist dies? Wo liegt die Ghost? Wieso sind Sie so naß? Wo ist Maud - Verzeihung, Fräulein Brewster -, oder muß ich Frau van Weyden sagen?"
Ich war zurückgetreten und hätte weinen mögen, daß ich unfähig war, ihn niederzuschießen, aber ich war doch nicht so töricht, die Büchse abzusetzen. In meiner Verzweiflung hoffte ich, daß er eine Feindseligkeit begehen, den Versuch machen würde, mich zu schlagen oder zu würgen, denn ich wußte: nur dann war ich imstande zu schießen. „Dies ist die Mühsalinsel", sagte ich. „Nie den Namen gehört", unterbrach er mich. „So nennen wir sie wenigstens", berichtete ich. „Wir?" fragte er. „Wer ist, wir'?"
„Fräulein Brewster und ich. Und die Ghost liegt, wie Sie selbst sehen können, mit dem Bug gegen den Strand."
„Es sind Robben hier", sagte er. „Sie haben mich mit ihrem Gebell geweckt, sonst würde ich noch schlafen. Ich hörte sie schon, als ich gestern abend hier hereintrieb. Sie zeigten mir an, daß eine Küste in Lee war. Es ist eine Robbeninsel, so etwas, wie ich es seit Jahren gesucht habe. Dank meinem Bruder Tod bin ich hier auf ein Vermögen gestoßen. Es ist eine Goldgrube. Wie ist die Lage der Insel?"
„Keine Ahnung", sagte ich. „Aber Sie müssen es doch wissen. Was haben Ihre letzten Beobachtungen ergeben?" Er lächelte unergründlich, antwortete aber nicht. „Und wo sind all Ihre Leute?" fragte ich. „Wie kommt es, daß Sie allein sind?" Ich war darauf vorbereitet, daß er auch diese Frage unbeachtet lassen würde, und seine willige Antwort überraschte mich.
„Ehe achtundvierzig Stunden vergangen waren, hatte mein Bruder mich gekriegt, aber es war, weiß Gott, nicht meine Schuld. Er enterte mein Schiff nachts, als nur ein Wachtposten an Deck war. Die Jäger ließen mich im Stich. Er bot ihnen mehr. Ich hörte es mit an. Er tat es vor meinen Augen. Die Mannschaft ging natürlich auch. Das konnte ich nicht anders erwarten. Alle Mann verließen mich, und da stand ich - ausgesetzt auf meinem eigenen Schiff. Diesmal hatte mein Bruder Tod gesiegt."
„Aber wie haben Sie denn die Masten verloren?" fragte ich.
„Gehen Sie hin, und sehen Sie sich die Taljenreeps an", sagte er und wies nach der Stelle, wo die Besantakelung sich hätte befinden müssen.
„Mit dem Messer durchgeschnitten!" rief ich aus.
„Nicht ganz", lachte er. „Viel feinere Arbeit. Sehen Sie sich's noch einmal an."
Ich sah: Die Taljenreeps waren so weit durchgeschnitten, daß sie die Wanten gerade noch halten konnten, bis eine besondere Anforderung an sie gestellt wurde.
„Das ist Köchleins Werk", lachte er wieder. „Ich weiß es, obgleich ich ihn nicht dabei erwischt habe. So ein bißchen Abrechnung."
„Das hat Mugridge nicht schlecht gemacht!" rief ich.
„Ja, das dachte ich auch, als die ganze Geschichte über Bord ging."
„Aber was haben Sie denn getan, als dies alles geschah?" fragte ich.
„Was ich tun konnte. Aber es war unter diesen Umständen nicht viel, das können Sie mir glauben."
Ich wandte mich um, um Mugridges Werk noch einmal zu betrachten.
„Ich glaube, ich will mich ein bißchen in die Sonne setzen", hörte ich Wolf Larsen sagen. Es war ein Anflug, ein ganz leiser Anflug von körperlicher Schwäche in seiner Stimme, und das wirkte so eigentümlich, daß ich einen raschen Blick auf ihn warf. Er fuhr sich mit der Hand nervös über das Gesicht, als ob er ein Spinngewebe fortwischte. Ich war bestürzt. Das alles war so unähnlich dem Wolf Larsen, den ich kannte.
„Wie steht es mit Ihren Kopfschmerzen?" fragte ich.
„Die plagen mich immer noch", lautete die Antwort. „Ich glaube, es geht jetzt gerade wieder los."
Er ließ sich ganz zu Boden gleiten. Dann rollte er sich auf die Seite, stützte den Kopf auf den Unterarm, während er mit dem Oberarm seine Augen vor der Sonne schützte. Ich blickte ihn verwundert an.
„Jetzt ist Ihre Gelegenheit gekommen, Hump", sagte er.
„Ich verstehe Sie nicht", log ich, denn ich verstand ihn gut.
„Ach, nichts", setzte er gleichsam schläfrig hinzu. „Sie haben mich jetzt da, wo Sie mich haben wollten."
„Nein, das stimmt nicht", erwiderte ich, „ich wünschte Sie tausend Meilen fort von hier."
Er lachte, sagte aber nichts weiter. Als ich an ihm vorbeischritt, um in die Kajüte hinunterzusteigen, bewegte er sich nicht. Ich hob die Falltür im Fußboden und blickte eine Weile unschlüssig in die Apotheke hinunter. Ich zögerte. Wie, wenn er sich nur verstellte? Das wäre in der Tat hübsch, dann saß ich hier wie eine Ratte in der Falle! Ich schlich mich leise auf die Laufbrücke und blickte verstohlen auf ihn hinab. Er lag noch da, wie ich ihn verlassen hatte. Wieder stieg ich hinunter; ehe ich mich jedoch in die Apotheke gleiten ließ, hängte ich vorsichtshalber die Klappe aus. So konnte die Falle jedenfalls nicht zuschnappen. Aber meine Vorsicht erwies sich als überflüssig. Ich kam in die Kajüte mit einem Vorrat von allerlei Eingemachtem, Schiffszwieback, Büchsenfleisch und ähnlichem - soviel ich zu tragen vermochte - und schloß die Falltür wieder.
Ein Blick auf Wolf Larsen zeigte