Der junge Mann schien seine Fassung wiedererlangt zu haben, denn er antwortete ganz ruhig: „Ich weiß es nicht, Herr. Vor kurzem sah ich ihn nach vorn gehen."
„Ich war auch vorn. Aber hast du bemerkt, daß ich nicht denselben Weg, den ich ging, wieder zurückkam? Kannst du dir das erklären?"
„Sie müssen über Bord gewesen sein, Herr."
„Soll ich im Zwischendeck nach ihm sehen,
Herr?" fragte ich.
Wolf Larsen schüttelte den Kopf. „Sie würden ihn nicht finden, Hump. Aber gehen Sie meinetwegen. Kommen Sie. Lassen Sie Ihr Bettzeug liegen." Ich folgte ihm. Nichts regte sich mittschiffs.
„Die verdammten Jäger!" bemerkte er. „Zu dick und zu faul, um vier Stunden Wache durchzuhalten."
Auf der Back fanden wir jedoch drei schlafende Matrosen. Er drehte sie auf den Rücken und blickte ihnen ins Gesicht. Sie bildeten die Deckwache, die Wache selbst pflegte man bei gutem Wetter schlafen zu lassen mit Ausnahme des Offiziers, des Rudergängers und des Mannes im Ausguck.
„Wer hat den Ausguck?" fragte der Kapitän.
„Ich, Herr", antwortete Holoyak, einer der Vollmatrosen, mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Ich bin diese Minute eingeschlafen, Herr. Es tut mir leid, Herr. Es soll nicht wieder vorkommen."
„Hast du irgend etwas an Deck gehört?"
„Nein, Herr, ich..."
Aber Wolf Larsen hatte sich mit einem unzufriedenen Knurren abgewandt, und der Matrose rieb sich die Augen, erstaunt, so glimpflich davongekommen zu sein.
„Still jetzt!" ermahnte mich Wolf Larsen flüsternd, indem er sich bückte und sich anschickte, durch die Luke hinunterzusteigen.
Ich folgte ihm bebenden Herzens. Was geschehen sollte, wußte ich ebensowenig, wie, was geschehen war. Aber Blut war geflossen, und Wolf Larsen war nicht selbst auf den Einfall gekommen, mit einem Loch im Kopf über Bord zu klettern. Außerdem fehlte Johansen.
Es war das erstemal, daß ich in die Back hinunterstieg, und ich werde nicht so bald den Eindruck vergessen, der sich mir bot, als ich den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Direkt in den Schiffsraum eingebaut, hatte die Back die Form eines Dreiecks, an dessen Schenkeln die zwölf Kojen in zwei Reihen übereinander angebracht waren. Sie war nicht größer als eine kleine Bodenkammer, und doch mußten zwölf Mann darin essen, schlafen und atmen. Mein Schlafzimmer daheim war nicht groß, aber es hätte gut ein Dutzend derartiger Vorderkastelle, ja, wenn man die Höhe berücksichtigte, das Doppelte fassen können.
Es roch schal und säuerlich, und im Lichte der trüben, hin und her schwingenden Schiffslampe sah ich, daß jeder verfügbare Platz bis ins kleinste Eckchen ausgefüllt war mit Seestiefeln, Ölzeug und sauberen und schmutzigen Kleidungsstücken aller Art. Mit jedem Rollen des Schiffes schwang das alles hin und zurück und brachte ein scheuerndes Geräusch hervor, als ob ein Baum sich gegen ein Dach oder eine Wand rieb. Irgendwo stieß ein Stiefel regelmäßig mit lautem Poltern gegen die Wand. Und obgleich es eine ruhige Nacht war, ertönte doch unausgesetzt ein Chor von knarrendem Holz, knirschenden Spanten und unergründlichen Geräuschen unter den Dielen.
Die Schläfer ließen sich nicht stören. Es waren die acht Mann der beiden Freiwachen, die Luft war dick vor Wärme und stinkendem Atem, und das Ohr erfüllte der Lärm ihres Schnarchen, Seufzens und Grunzens. Aber schliefen sie? Alle? Oder hatten sie geschlafen? Das wollte Wolf Larsen offenbar feststellen; er wollte den finden, der sich nur schlafend stellte oder erst vor kurzem eingeschlafen war. Und er begann die Untersuchung in einer Art, die mich an eine Erzählung Boccaccios erinnerte.Er nahm die Lampe aus ihrem schwingenden Halter und reichte sie mir. Bei den beiden ersten Kojen steuerbord begann er. In der oberen lag der Kanake Oofty- Oofty, ein ausgezeichneter Seemann. Er lag auf dem Rücken, schlief fest und atmete so sanft wie eine Frau.
Den einen Arm hatte er unter seinen Kopf gelegt, während der andere auf der Decke lag. Wolf Larsen faßte mit Daumen und Zeigefinger sein Handgelenk und fühlte ihm den Puls. Da erwachte der Kanake. Er erwachte ebenso leicht, wie er schlief, ohne eine einzige Bewegung seines Körpers. Nur die Augen regten sich. Sie öffneten sich plötzlich ganz weit, groß und schwarz, und starrten uns, ohne zu zwinkern, an. Wolf Larsen legte ihm zum Zeichen, daß er schweigen solle, den Finger auf den Mund, und die Augen schlossen sich wieder.
In der unteren Koje lag Louis, dick, warm und verschwitzt, und schlief einen unvorstellbaren, schweren Schlaf. Als Wolf Larsen sein Handgelenk faßte, bewegte er sich unbehaglich und krümmte seinen Körper so, daß er einen Augenblick nur auf Schultern und Fersen ruhte. Seine Lippen bewegten sich, und er murmelte folgende rätselhaften Worte: „Ein Viertel für einen Shilling, aber biete die Lampen für drei Pence das Stück aus. Sonst hängt sie dir der Wirt für sechs Pence auf."
Dann drehte er sich mit einem schweren Seufzer auf die Seite. Befriedigt schritt Wolf Larsen weiter zu den beiden nächsten Kojen an der Steuerbordseite, in denen, wie wir beim Schein der Lampe sahen, oben Leach und unten Johnson lagen.
Als Wolf Larsen sich zur unteren Koje niederbeugte, um Johnson den Puls zu fühlen, sah ich, der ich aufrecht stand und die Lampe hielt, wie Leach verstohlen den Kopf hob und über den Rand der Koje herabblickte, um zu sehen, was vorging. Er mußte wohl die Absicht Wolf Larsens durchschaut und erkannt haben, daß eine Entdeckung unumgänglich war, denn im selben Augenblick wurde mir die Lampe aus der Hand geschleudert, und das Vorderkastell war in Finsternis gehüllt. Gleichzeitig mußte er auf Wolf Larsen heruntergesprungen sein.
Das erste nun folgende Geräusch war wie das eines Kampfes zwischen einem Stier und einem Wolf. Ich hörte ein wütendes Gebrüll von Wolf Larsen und ein Knurren von Leach, das verzweifelt und haarsträubend klang. Johnson muß ihm sofort zu Hilfe gekommen sein, so daß sein untertäniges, kriecherisches Wesen in den letzten Tagen nichts als Verstellung gewesen war. Ich war so entsetzt über diesen Kampf im Dunkeln, daß ich mich zitternd gegen die Treppe lehnte und nicht imstande war hinaufzugehen. Ich hatte wieder das alte Gefühl in der Magengrube, das mich stets beim Anblick von Gewalttätigkeiten überkam. In diesem Falle konnte ich zwar nichts sehen, aber ich hörte das dumpfe Geräusch der Schläge.
Es mußten sich wohl noch andere an der Verschwörung gegen Kapitän und Steuermann beteiligen, denn aus den verschiedenen Geräuschen erkannte ich, daß Leach und Johnson schnell Verstärkung von ihren Kameraden erhalten hatten.
„Ein Messer her!" schrie Leach.
„Zerschlag ihm den Kopf! Zerquetsch ihm das Gehirn!" rief Johnson.
Aber nach dem ersten Gebrüll machte Wolf Larsen keinen Lärm mehr. Grimmig und stumm kämpfte er um sein Leben. Er war arg in der Klemme. Im ersten Augenblick war er zu Boden geworfen, und es war ihm nicht möglich, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fühlte, daß er trotz seiner ungeheuren Kraft keine Hoffnung hatte.
Ich erhielt selbst einen deutlichen Begriff von der Gewalt des Kampfes, denn ich wurde von den umherwirbelnden Körpern zu Boden geschleudert und bös gequetscht. Aber es gelang mir, in der Verwirrung in eine leere Unterkoje zu kriechen, wo ich mich in Sicherheit befand.
„Alle her! Wir haben ihn! Wir haben ihn!" konnte ich Leach rufen hören.
„Wen? " fragten die, welche wirklich geschlafen hatten und jetzt, sie wußten nicht, wie, geweckt worden waren. „Den Steuermann", antwortete Leach listig. Diese Auskunft wurde mit einem Freudengeheul begrüßt, und jetzt waren sieben starke Männer über Wolf Larsen. Ich glaube, Louis beteiligte sich nicht am Kampfe. Die Back glich einem Bienenstock, dessen wütende Insassen durch einen Eindringling aufgescheucht waren.
„Was ist denn los da unten?" hörte ich Latimer durch die Luke herunterrufen. Er war zu vorsichtig, um in diese Hölle der Leidenschaften herabzusteigen, die er in der Finsternis toben hörte.
„Kann denn niemand ein Messer finden? Ein Messer, ein Messer!" flehte Leach in einem Augenblick verhältnismäßiger Ruhe.
Die große