Aber ich hatte nicht mit den ungeheuren Schwierigkeiten gerechnet, die das Reffen dreier Segel für einen einzigen Mann bedeutete. Immer wieder machte der Sturm meine Anstrengungen zunichte, riß mir die Leinwand aus den Händen und zerstörte in einem Augenblick, was ich in zehn Minuten schwersten Kampfes erreicht hatte. Um acht Uhr hatte ich erst das zweite Reff in die Fock geschlagen. Um elf war ich noch nicht viel weitergekommen. Meine Fingerspitzen bluteten, und alle Nägel waren abgebrochen. Vor Schmerz und Erschöpfung weinte ich heimlich im Dunkeln, wenn Maud es nicht sah.
Verzweifelt gab ich es auf, das Großsegel zu reffen, und entschloß mich, unter gereffter Fock beizudrehen. Noch drei Stunden brauchte ich, um Großsegel und Klüver zu beschlagen, und um zwei Uhr morgens konnte ich, mehr tot als lebendig, feststellen, daß mein Versuch geglückt war. Die gereffte Fock tat ihren Dienst. Die Ghost hielt sich am Winde, sie zeigte keine Neigung, sich quer in den Seegang zu legen. Ich war ganz ausgehungert, aber Maud versuchte vergebens, mir etwas einzuflößen. Mit vollem Munde schlief ich auf dem Stuhl ein.
Wie ich aus der Kombüse in die Kajüte kam, weiß ich nicht. Ich wurde von Maud geführt und gestützt. Als ich lange darauf erwachte, lag ich in meiner Koje. Maud hatte mich hingelegt und mir die Schuhe ausgezogen. Ich war ganz steif und zerschlagen und schrie vor Schmerz auf, als ich mit meinen wunden Fingerspitzen das Bettzeug berührte. Es war offenbar noch nicht Morgen, und so schloß ich die Augen und schlief wieder ein.
Wieder erwachte ich, verwirrt, daß ich nicht besser schlief. Ich zündete ein Streichholz an und sah auf die Uhr. Sie zeigte Mitternacht. Und ich hatte das Deck um drei Uhr nachtsverlassen! Nach einigem Nachdenken fand ich die Lösung: Ich hatte einundzwanzig Stunden geschlafen. Ich lauschte eine Weile auf das Stampfen der Ghost, das Rauschen der See und das gedämpfte Tosen des Windes, dann drehte ich mich auf die andere Seite und schlief friedlich weiter bis zum Morgen.
Als ich um sieben Uhr aufstand, sah ich nichts von Maud und schloß daher, daß sie in der Kombüse sei, um das Frühstück zu bereiten. Ich begab mich an Deck und fand, daß die Ghost sich prächtig hielt. In der Kombüse brannte zwar das Feuer, und das Wasser kochte, aber ich fand keine Maud.
Ich entdeckte sie schließlich im Zwischendeck neben Wolf Larsens Koje. Ich betrachtete ihn, den Mann, der von der höchsten Zinne des Lebens herabgeschleudert war in dies furchtbare Lebendigbegrabensein. Sein stilles, ruhiges Gesicht zeigte eine Milde, die ich nie zuvor gesehen. Maud blickte mich an, und ich verstand. „Sein Leben ist im Sturm erloschen", sagte ich.
„Aber er lebt noch", antwortete sie mit unendlicher Zuversicht in ihrer Stimme.
„Er hatte zuviel Kräfte."
„Ja", sagte sie. „Aber jetzt binden sie ihn nicht mehr. Er ist ein freier Geist."
„Ja, er ist jetzt frei", entgegnete ich; dann faßte ich ihre Hand und führte sie an Deck.
Die Gewalt des Sturmes brach sich in dieser Nacht, das heißt: Er legte sich ebenso langsam und allmählich, wie er aufgekommen war. Als ich am nächsten Morgen nach dem Frühstück Wolf Larsens Leiche zur Bestattung an Deck schaffte, wehte es noch stark, und die See ging hoch. Das Wasser spülte immer wieder über das Deck hinweg und lief durch die Speigatten ab. Eine heftige Bö traf plötzlich den Schoner, der sich überlegte, daß die Leereling völlig begraben war, und das Pfeifen in der Takelung wuchs zu einem wilden Kreischen. Wir standen bis zu den Knien im Wasser.
Ich entblößte den Kopf.
„Ich erinnere mich nur an eine Stelle des Gottesdienstes", sagte ich, „nämlich:, Und dein Leib soll in die See geworfen werden.'"
Maud sah mich an, überrascht und entsetzt. Aber die Erinnerung an etwas, das ich einst gesehen, wurde lebendig in mir und ließ mich Wolf Larsen bestatten, wie Wolf Larsen einen anderen bestattet hatte. Ich hob das Ende des Lukendeckels, und der in Segelleinen eingenähte Körper glitt, die Füße voran, ins Meer. Das eiserne Gewicht zog ihn nieder. Er war verschwunden.
„Leb wohl, Luzifer, du stolzer Geist", flüsterte Maud, so leise, daß ihre Worte vom Heulen des Windes übertönt wurden; aber ich sah ihre Lippen sich bewegen und verstand.
Uns an der Reling haltend, arbeiteten wir uns nach achtern durch. Da blickte ich aufs Meer hinaus. Die Ghost hob sich in diesem Augenblick auf einer Woge, und ich sah deutlich, zwei bis drei Meilen entfernt, einen kleinen Dampfer, der, rollend und stampfend, gerade auf uns zukam. Er war schwarz gestrichen, und nach der Beschreibung der Jäger erkannte ich ihn als einen Zollkutter der Vereinigten Staaten. Ich zeigte ihn Maud und führte sie schnell aufs Hüttendeck. Dann stürzte ich nach vorn an die Flaggenkiste, aber in diesem Augenblick fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, für ein Flaggenfall zu sorgen.
„Wir brauchen kein Notsignal", meinte Maud, „wenn sie uns nur sehen."
„Wir sind gerettet", sagte ich ernst und feierlich. Und dann in überströmendem Glück: „Ich weiß kaum, ob ich mich freuen soll oder nicht."
Ich sah sie an, unsere Blicke begegneten sich. Wir lehnten uns aneinander, und ehe ich es wußte, hatte ich sie in meine Arme geschlossen, und unsere Lippen trafen sich.
„Meine Frau!" sagte ich und streichelte mit der freien Hand ihre Schulter, wie alle Liebenden es tun, obwohl sie es in keiner Schule gelernt haben.
„Mein Mann!" sagte sie, und ihre Lider zitterten, und ihreAugen verschleierten sich, als sie mich anblickte und ihren Kopf mit einem glücklichen kleinen Seufzer an meine Brust schmiegte.
Ich sah nach dem Kutter. Er war ganz nahe. Ein Boot wurde gerade herabgelassen.
„Einen Kuß, Liebste", flüsterte ich. „Noch einen Kuß, ehe sie kommen -"
„Und uns vor uns selbst retten", vollendete sie mit einem bezaubernden Lächeln, so rätselhaft, wie ich es noch nie gesehen, denn es barg alle Rätsel der Liebe.
jack london
Das elementare Drama allen Daseins, der Kampf ums Überleben, bei dem Mensch und Tier auf Instinkt, Tapferkeit und rohe Gewalt angewiesen sind - kein anderer Schriftsteller hat dieses Thema mit größerer Sprachkraft, mit reicherer Vorstellungsgabe zu gestalten gewußt als Jack London in seinen unvergeßlichen Klassikern „Wenn die Natur ruft", „Wolfsblut" und „Der Seewolf". Alles, was Jack London schrieb, hat er auch erlebt, und was er erlebte, das empfand er spontan und heftig. Darum sind seine Bücher so ungewöhnlich wie sein kurzes, hartes und abenteuerliches Leben.
Am 12. Januar 1876 in San Franzisko geboren, wächst London in ärmlichen Verhältnissen auf und lernt schon bald, sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Als Zehnjähriger schleppt er Zeitungen durch die Stadt, mit fünfzehn Jahren räubert er mit seinem eigenen Boot private Austernbänke aus, und ein Jahr später heuert er auf einem Robbenfänger an, auf dem er jene Eindrücke sammelt, die er zwölf Jahre später in „Der Seewolf", dem wohl berühmtesten seiner über fünfzig Bücher, verarbeitet. Er holt das Abitur nach, studiert und geht dann als Goldsucher nach Alaska. Die Erlebnisse am Klondike liefern ihm Stoff für zahlreiche Kurzgeschichten und mehrere Romane, dennoch muß er Zeiten voller Hunger und Krankheit überstehen, ehe ihm 1903 mit „Wenn die Natur ruft" der Durchbruch gelingt. Er bereist fortan die ganze Welt, ist als Schriftsteller ungemein produktiv, erlebt aber dennoch immer wieder Phasen voller Selbstzweifel und Depressionen. Erschöpft von der eigenen Rastlosigkeit, zermürbt vom Alkohol und von der Unfähigkeit, mit dem inzwischen reichlich vorhandenen Geld umzugehen, scheidet Jack London im November 1916 auf seiner Farm in Kalifornien freiwillig aus dem Leben.
Lockruf des Goldes