Gesammelte Werke. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026800347
Скачать книгу
in der Mehrzahl. Eine völlige Trennung ihrer auf Anwendung bedachten Anschauungen von denen der reinen Dichtung ist nun freilich weder wünschenswert noch hat sie je bestanden; aber wenn sie den Ton angeben und der zugrunde liegende Unterschied nicht beachtet oder gar mißachtet wird, wie es seit langem wieder der Fall ist, verfällt eine Literatur unaufhaltsam.

      In der Metaphysik der Musik sagt Schopenhauer, daß es in der Musik die ganze Welt noch einmal gebe. Alles lasse sich durch Musik sagen … «eine allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft». Nur in dieser Sprache gebe es eine völlige Verständigung unter Menschen. – Hätte dieser große, ausnahmsweise optimistische Pessimist doch noch das Kino erlebt! Wie fesselnd wäre es, ihn darüber zu vernehmen, daß seine Argumente versehentlich auch auf dieses zugetroffen sind!

      Zur Männer-und Frauenfrage: Es ist nicht unbedenklich, von der Seele oder der «Psychologie» des Mannes und der Frau zu sprechen, als wären das zwei Seelen und Psychologien. In Wahrheit dürfte kaum ein anderer wirklich gründlicher Unterschied bestehen als der zwischen einer derberen und einer zarteren Gesamtverfassung; wir stammen ja schließlich von Tieren ab, bei denen auch das Weibchen die meisten Tätigkeiten des Mannes beherrscht, wenn selbst in einem eingeschränkten Maße: und die Seele steht in Einklang mit den Tätigkeiten. Aus diesem Grund ist freilich auch zu erwarten, daß sie sich mit ihnen ändert, und die der Frau hat es mehr tun müssen als die des Mannes; aber da sich die Seele nie völlig ändert und nichts ganz aufgibt, darf es eigentlich nicht verwundern, daß die Frau eine natürliche und ursprüngliche Psychologie neben der hat, die ihr später zuteil geworden ist, man möchte fast sagen, eine wirkliche neben ihrer angeblichen. Eine Frau zum Beispiel von Herzen fluchen zu hören, wirkt abstoßend; aber manchmal kann es rührend natürlich sein, namentlich wenn sie sich nicht beobachtet weiß und mit ihrem Schöpfer allein ist.

      Allerhand Fragliches

[31. Mai 1936]

      Das Übersetzervolk. Wir haben uns gerühmt, ein aufgeschlossenes Volk zu sein, weil wir eifrig übersetzten und weil Übersetzungen einen großen Raum in unserer Nationalliteratur einnehmen. Zuweilen wurde daraus sogar ein recht wundersames Psychologem gemacht, das ungefähr so aussieht: Weil wir Deutschen geographisch in der Mitte Europas wohnten, seien wir auch zu Mittlern seines Geistes bestimmt. In dieser Weise schwärmten wir uns an, als ob es nicht eine bescheidenere Erklärung gäbe, die wir gerade jetzt wiedererleben: Der deutschen Literatur hat es niemals an bedeutenden Dichtern gefehlt, aber es sind immer wieder ihre anderen über sie gekommen! Zuletzt hat sich die deutsche Literatur vor einigen dreißig oder vierzig Jahren an der russischen, skandinavischen und französischen aufrichten müssen, weil sie von ihrem eigenen Unkraut überwuchert worden war, das der natürliche und ungereutete Boden immer in größerer Fülle hervorbringt als die edlen Pflanzen. Wen werden unsere Enkel übersetzen?

      Was sagt Lichtenberg? «Mich dünkt, der Deutsche hat seine Stärke vorzüglich in Originalwerken, worin ihm schon ein sonderbarer Kopf vorgearbeitet hat; oder mit andern Worten: er besitzt die Kunst, durch Nachahmen original zu werden, in der größten Vollkommenheit.» Es ist rund hundertfünfzig Jahre her, seit dies geschrieben worden ist! Aber das bedeutet nicht Rasse, sondern Schicksal!

      Kein Irrtum. In einer Autographensammlung findet sich der folgende Ausspruch eines Dichters: «Höchste Kunst: das Tiefste auf die planste Art zu sagen!» Plan heißt aber eben und flach, also ist da vermutlich ein Irrtum unterlaufen, oder ist es eine unfreiwillige Wahrheit? Denn die Verbindung von Tiefe des Vorwurfs mit Flachheit der Behandlung gilt gewöhnlich für das eigentlich Dichterische unter Deutschen. Es ließe sich viel darüber schreiben; aber erspar dir die Mühe: Daß plan gleich flach in unserer Sprache wirklich die halbberechtigte, zur Entgleisung auffordernde zweite Bedeutung von einfach, klar, verständlich und bodennah verzeichnet, drückt es schon in einem Wort aus!

      Die Wesenlosigkeit der Literatur, ihre Unfruchtbarkeit und die Wurzel dieses Übels finden sich schon, wenngleich ohne Absicht, bei Thomas a Kempis gekennzeichnet, im Kapitel von der Vermeidung überflüssiger Worte, das in der Imitatio Christi steht: «Aber warum sprechen wir so gern und erzählen einander, da wir doch selten zum Schweigen zurückkehren, ohne unser Gewissen verletzt zu haben? Darum sprechen wir so gern, weil wir durch wechselseitige Reden einander zu trösten trachten und unser von verschiedenen Gedanken ermüdetes Herz zu befreien wünschen. Und sehr gern möchten wir von diesen Dingen reden und denken, die wir sehr lieben und begehren oder die uns zuwider sind. Aber ach! Oft umsonst und vergeblich. Denn diese äußere Tröstung ist ein nicht geringer Schaden der inneren und göttlichen Tröstung.» So steht es dort und könnte auch von der wahren und falschen Dichtung gesagt sein, obwohl nicht mit einem Wort von ihr die Rede ist.

      Über den Eklektizismus und die historische Gerechtigkeit. Daß Eklektizismus, der nachfahrende Geschmack, in der Kunst eine so große Rolle spielt, gibt fast ein Scherzrätsel auf, wenn man die Frage so stellt: Wie kommt es, daß sich die schlechten Künstler einer jeden Zeit die guten der Vorzeit zum Muster nehmen, und nicht deren schlechte? Das Rätsel scheint sich zu lösen, wenn man bemerkt, daß an der Stelle von «guten» auch «die anerkannten» stehen müßte. Denn der Eklektiker ist von der allgemeinen Anerkennung abhängig; er ist sogar ihr Ausdruck. Trotzdem hat sich damit die ursprüngliche Frage nur gewandelt, da doch Eklektizismus neben Abhängigkeit zweifellos auch noch den Beibegriff der Gewähltheit enthält. Was er nachmacht, muß nicht nur anerkannt, sondern auch gut sein. Auf diese Weise führt aber die Frage nach dem Eklektizismus auf eine andere. Denn wie kommt es, daß der nachlebende Erfolg den bedeutenden Künstlern gehört?

      Wie kommt es, daß die überschätzten falschen Meister mit der Erneuerung der Zeit ihre Anziehungskraft verlieren und daß die natürliche Lockung, die das Mittelmäßige auf den Mittelmäßigen ausübt, von irgend etwas anderem überwunden wird? Es setzt geradezu voraus, daß sich der schlechte Geschmack früher ändere als der gute. Ja, es setzt sogar voraus, daß er das von selbst tue, so etwa, wie das Sternenlicht nach dem Untergang der grellen Tagessonne hervortritt, und es ist nicht selten eine frohgläubige Rechtfertigung der Menschheit daraus gemacht worden. Kurz gesagt: es ist die sogenannte historische Gerechtigkeit, die sich einstellen soll, wenn die Dinge vorbei sind.

      Gibt es die also? Zum Teil ist sie natürlich bloß eine Erfindung der Historiker, die einstens ihre Tyrannen damit geschreckt haben, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei; zu einer Zeit, wo die Tyrannen noch nicht selbst Schriftsteller waren. In dieser guten, alten Zeit standen Politik und Kultur noch zueinander im Gegensatz. Zum andern Teil gibt es aber, woran nicht zu zweifeln ist, wirklich einen Klärungsvorgang durch die Zeit, der beständig am Werk ist und in eingeschränktem Maße eine historische Gerechtigkeit und Klugheit genannt werden darf.

      Auch an der üblichen Erklärung dieses Vorgangs, daß seine Ursache in der «Distanz von den Ereignissen» zu suchen sei, ist nichts auszusetzen. Jeder weiß, was es heißt, ein und dieselbe Sache von verschiedenen Seiten, zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Lagen und Stimmungen anzusehen: es entsteht sowohl Abkühlung als auch Reife des Urteils daraus. Nach dem Muster dieser Erfahrung ist die Vorstellung der «Distanz» gebildet, die uns die gesetztere Urteilsreife der Nachwelt erklären soll. Hier ist jedoch, bei der Übertragung aus dem persönlichen Erleben ins Allgemeine, ein kleiner Unterschied zu beachten. Denn es ist nicht sowohl ein Geist, worin dieses Urteil reift, als es vielmehr die geistigen Menschen sind, die es bewirken, und historische Distanz bedeutet, daß sie sich bei uns gewöhnlich erst an den Tisch setzen dürfen, nachdem die Lebendigen gegessen haben. Die historische Gerechtigkeit kommt also hauptsächlich davon, daß sich die gesunden, lebendigen Menschen nicht über die Toten und deren Angelegenheiten aufregen. Dem verdanken wir das, was es an freier Sachlichkeit der Kunstbildung gibt; ja beinahe ließe sich überhaupt sagen, daß überzeitliche Kulturleistungen nicht der Ausdruck ihrer Zeit sind, sondern das, wohin deren Begehrlichkeit nicht gereicht hat, der Inhalt ihrer Vergeßlichkeit und Zerstreutheit.

      Der Eklektizismus wäre dann als ein Mittleres und ein Vermittler zwischen Geist und Begehren zu bestimmen.

      Das vergeßliche Leben. Es gibt noch heute viele Menschen, die mit Schopenhauer, und doch schon mit uns gelebt haben. Schopenhauer aber hat mit Goethe Briefe über die Farbenlehre gewechselt. Er hat unter Fichte gelitten. Wagner hat ihm den Ring des Nibelungen übersandt. Nietzsche hat ihm