Als Sita am nächsten Morgen erwachte, wußte sie sofort, daß sie verschlafen hatte. Gewiß würde ihr Onkel bereits beim Frühstück sitzen und wegen ihrer Verspätung außer sich sein.
Und doch war ihre Furcht nicht so groß, wie sie eigentlich erwartet hatte. Tatsächlich hatte sie gleich beim Erwachen an diesem Morgen gespürt, daß sich etwas verändert hatte. Fast war ihr, als ströme Sonnenschein in ihre Kabine und als läge der Frühling in der Luft.
Da sie wußte, daß es tagsüber sehr heiß werden würde, schlüpfte sie in ein leichtes Kleid und ging — ungeachtet ihrer Verspätung — hinaus auf Deck.
Es herrschte dieselbe schwüle Hitze wie am Vortag. Die See war spiegelglatt, der Himmel über ihr wolkenlos. Der Horizont verlor sich im Dunst der Hitze.
Zum ersten Mal hatte Sita das Gefühl, nicht allein und angsterfüllt zu sein. Sie ahnte vielmehr, daß sie sich auf eine neue Welt zubewegte, eine Welt, die viel bunter und aufregender sein würde als die alte.
Seitdem sie mit ihrem Onkel zusammenlebte, waren er und Indien für sie eins geworden. Vermutlich war darin der Grund für ihre Abneigung gegen dieses Land zu suchen. Sie hatte das Land abgelehnt, das einen Menschen so grausam und widerwärtig hatte werden lassen.
Nun aber dachte sie daran, wie ihr Vater stets von Indien geschwärmt hatte. Ihr fielen auch die schönen Bilder wieder ein, die er von dort mitgebracht hatte, Reproduktionen von Rajput-Malereien. Ihre Mutter hatte ihr Zeichnungen gezeigt, auf denen Paläste, Elefanten und prächtig gekleidete Maharadschas abgebildet waren.
Unwillkürlich fragte Sita sich, was aus diesen Bildern geworden sein mochte, und sie gelangte zu dem Schluß, daß sie gewiß irgendwo im Hause ihres Onkels in Wimbledon sein mußten, wohin man sie aus dem Gutshaus gebracht hatte.
In ihrem überwältigenden Kummer nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie nicht daran gedacht, etwas für sich zu erbitten. Sie hatte es hingenommen, daß ihr einziger Besitz ihre eigenen Kleider und die ihrer Mutter waren.
Da ihr Onkel sich hartnäckig weigerte, ihr Geld zu geben, hatte sie in den vergangenen zwei Jahren die Sachen ihrer Mutter getragen, obwohl vieles davon für sie viel zu erwachsen und damenhaft war.
Gewiß hätte er sie in alle Ewigkeit die alten Kleider auftragen lassen, wenn sie nicht darauf bestanden hätte, daß sie für Indien eine entsprechende Garderobe benötigte.
Mit dem wenigen Geld, das ihr Onkel ihr schließlich zugestanden hatte, hatte sie jedoch nur Kleider aus billigem Stoff kaufen können. Zum Glück hatte sie einen guten Geschmack, und so wählte sie nur Sachen aus, die wirklich zu ihr paßten und die ihre Persönlichkeit betonten, so daß man darüber die mindere Qualität vergaß.
Während sie nun aufs Meer hinausschaute und sich immer mehr auf Indien freute, wünschte sie, sie hätte sich intensiver mit ihrem Reiseziel befaßt. Da aber ihr Onkel während der Reisevorbereitungen besonders ungenießbar gewesen war und er an Bord mit jedem Tag unzufriedener mit ihr wurde, war ihr einziges Bestreben gewesen, seinen Schlägen auszuweichen und in Ruhe gelassen zu werden.
Wie schon unzählige Male zuvor hatte sie sich gewünscht, es wäre ihr vergönnt gewesen, gemeinsam mit ihren Eltern zu sterben.
Als sie seinerzeit bei einem Ausflug mit dem Segelboot ertranken, war Sitas kleine glückliche Welt untergegangen. Ihr Onkel war gekommen, um sie nach London zu holen, und danach war nichts mehr so wie früher.
Sita stieß einen tiefen Seufzer aus und kehrte dem Meer den Rücken zu. Tränen füllten ihre Augen, wie so oft, wenn sie an ihre Eltern dachte.
Plötzlich vermeinte sie eine tiefe Stimme zu hören: ‘Sie müssen glauben!’
Beinahe klang es wie ein Befehl. Während sie hinunter in den Salon zum Frühstück ging, fragte sie sich, ob er an sie so dachte wie sie an ihn.
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