9.
Störungen.
Aus solchen hochwichtigen Betrachtungen zog ihn das plötzliche Aufspringen der Stubenthür. Es war jedoch nicht Ännelis zartes Köpfchen, welches mit dem taubenartig beweglichen Halse durch die halboffene Pforte sah, sondern ein Riesenhaupt mit grobgeschnittenen Zügen, dessen Nase, Kinn und Backenknochen gewaltig hervorstanden; Bart und Augenbrauen waren buschig, die Augen in Blutringe eingefaßt . . . kurz, Addrichs Kopf. Sein Mund öffnete sich und er stieß mit heiserer Stimme die Worte aus: »Gute Nacht, Meister Wirri! Morgen sprechen wir zusammen.«
Das Holoferneshaupt verschwand und die Thür fiel zu. Von außen wurde ein Riegel vorgeschoben und man konnte aus dem Geräusche deutlich erkennen, daß noch ein Hängeschloß vorgelegt wurde. Die Schritte entfernten sich darauf durch den Gang hin.
Wirris Schrecken war so gewaltig, daß er weder den empfangenen Wunsch erwidert, noch die Fähigkeit behalten hatte, der Ursache seiner Einsperrung nachzufragen. Das Zufahren der Thür, das Pfeifen des rostigen Riegels, das Klappern des Vorhängschlosses dröhnte ihm in allen Nerven, und verscheuchte die ganze Menge der süßen, wenngleich voreiligen Ehestandsbilder. Er stieß einen tiefen Seufzer aus: »Muß ich also Einer von Denen sein, die man hereinkommen, aber nicht wieder weggehen sieht? Hilf, heiliger Himmel! Gegen diese versteckte Mördergrube war doch Danielas Löwenzwinger eine sehr freundliche Herberge!«
Er warf sich, in den Kleidern bleibend, angstvoll auf's Bett, nahm seine Zuflucht bald zum Beten, bald zum Fluchen, ohne weder im einen, noch im andern Beruhigung zu finden. Diese kehrte von sich selbst erst dann, und wenn auch nicht als feste Zuversicht, doch im Wesen tröstender Hoffnung zurück, sobald das erste gewaltige Herzpochen infolge des Schreckens sich gelegt und der ungestüm aufgeregte Blutlauf sich beruhigt hatte. Er glaubte, keine Gefahr für sein Leben befürchten zu müssen, denn wäre dem Addrich an diesem gelegen, so würde er es ihm in der Hammerschmiede, im Walde, oder auf der nächtlichen Wanderschaft ohne Gefahr haben rauben können. So dachte er, und indem er alle Umstände mit wachsender Besonnenheit zusammenstellte, entdeckte er auch bald den wahrscheinlichen Grund, warum man seine werte Person für diese Nacht hinter Schloß und Riegel gelegt habe. Er erinnerte sich, daß Addrichs heuchlerische Arglist ihm das Geständnis vom Briefe des Junkers entlockt hatte, daß Addrich selbst den Inhalt des Briefes und das Vorhaben des kühnen Spielmanns kannte, Epiphania nach Liebegg zu entführen. Was war natürlicher, als den Plan durch nächtliche Verwahrung des Entführers zu vereiteln? »Morgen schickt er mich mit langer Nase wieder heim,« sprach Wirri zu sich selbst, »und giebt mir einen Sack voll Schimpfreden mit auf den Weg.«
Er war in der Betrachtung seines Zustandes bis zu diesem Punkte gekommen, als ihm ein mattes Aufflammen der Lampe das Verlöschen ihres Mondscheinlichtes verkündete; er eilte zu spät zum Tische, und befand sich beim ersten Berühren des Dochtes in tiefer Finsternis. Ein neues Grauen befiel ihn, er tappte ängstlich zum Bette zurück, kletterte wie an einem Turme mühsam hinauf, legte sich unentkleidet nieder und schloß die Augen; unstreitig das beste Mittel, die Finsternis nicht mehr zu bemerken.
Es mochte schon gegen Morgen sein, als er endlich in einen unruhigen Halbschlaf versank; aus diesem aber wurde er wieder ebenfalls aufgeschreckt, und zwar, wie es ihm vorgekommen war, durch Hundegebell, welches von außerhalb des Hauses hörbar wurde. Er spitzte mit schlagendem Herzen lange das Ohr. Da es jedoch still blieb, legte er das müde Haupt wieder zum Schlummer. Bald aber vernahm er ein sonderbares Geräusch, wie von Menschentritten herrührend, und so nahe, daß er glaubte, man komme zu seinem Bette. Er fuhr mit halbem Leibe in die Höhe; das Herz schlug ihm, als wollte es die Brust sprengen, und er fühlte, wie sich die Haare seines Krauskopfes aufrichteten. Mit Entsetzen bemerkte er eine finstere Gestalt in schwebender Bewegung vor dem Gitterfenster seines Gemaches. Je länger er hinhorchte, desto deutlicher unterschied er die Umrisse eines Mannes, der am Fenster hinaufstieg, mit den Füßen in das Gegitter trat, und endlich in der Höhe verschwand.
Wie unangenehm dem vielgequälten Manne die neue Störung auch sein mochte, so gewährte sie ihm doch eine Art Beruhigung, weil er darin keine Gefahr für seine Person sah. »Ist's ein Dieb, dem nach Addrichs Schätzen gelüstet,« dachte er, »so bin ich wohlgeborgen und verwahrt. Es könnte aber auch ein verliebter Nachtvogel sein, der beim herzigen Änneli zur Chilt geht; dann sucht er mich nicht. Ich wäre viel lieber an seiner Stelle. Das junge Blut weiß also auch schon, daß im Dunkeln gut munkeln ist. Wer hätte den ehrlichen, frommen Augen das glauben sollen?«
Während dieses kurzen Selbstgesprächs zeigten sich die Beine schon wieder auf den Eisenstäben des Gitters. Die Gestalt stieg nieder und verschwand. Doch gleich nach dem erhob sich ein neues Geräusch. Eine Männerstimme rief: »Stehe, Bösewicht!« Meister Wirri horchte mit gespannter Aufmerksamkeit; er vernahm deutlich das Geklirr aneinander fahrender Degenklingen, dazwischen eine Stimme: »Packan, faß, faß!« rufend, worauf Totenstille folgte. Später vernahm er ein dumpfes, gebrochenes Winseln, welches in einem matten Stöhnen erlosch. Nach diesem blieb alles ruhig.
Den Meistersänger überfiel Todesschrecken. Diejenigen, welche draußen handgemein geworden waren, konnten keine Chiltbuben oder Bauernburschen gewesen sein, das verrieten ihre Waffen. Es war bei Addrichs Hause offenbar ein Mord vollbracht worden und von jetzt an kam kein Schlaf mehr in Wirri's Augen. Die Nacht zog sich für ihn in eine unendliche Länge. Seliges Gefühl durchströmte ihn, als endlich die Dämmerung durch's Fenster hereintrat und es im Hause nach und nach lebendig wurde. Nun erst, als wäre er jetzt sicherer, schloß er die Augenlider, um zu versuchen, ob er noch etwas schlafen könne, denn er hatte die ganze schreckliche Nacht den Schlaf entbehrt, aber bald störten ihn wieder Stimmen mehrerer Männer. Aufgeregt und neugierig sprang er vom hohen Bett zum Fenster hinunter. Auf einem freien, schmalen Platze zwischen Haus und Wald zeigten sich drei Männer in lebhaftem Gespräch begriffen, doch redeten sie geheimnisvoll und nur halblaut. Ein vierter war damit beschäftigt, einen Besen auf dem Grase hin- und herzuschwingen, wo man Blut am Boden sah. Zwischen den Bäumen des nahen Waldes erschien noch ein fünfter mit einer Schaufel damit beschäftigt, Erde in eine Gruft zu werfen. Wirri gedachte der Ereignisse, deren Ohrenzeuge er gewesen, und das Bild von draußen erklärte sich ihm von selbst.
Wiewohl die eingetretene Morgendämmerung nicht ganz deutlich zu sehen gestattete, erkannte Meister Wirri unter den drei Redenden doch ohne Mühe die riesige Gestalt Addrichs. Der andere war der zum Bauer verwandelte Schwede, genannt Hauptmann Gideon. Er trug die rechte Hand verbunden in einem Tuche, das für den Beobachter am Fenster unter den gegenwärtigen Umständen von Bedeutung werden mußte. Der dritte, ein untersetzter, vierschrötiger, bäuerisch gekleideter Mann, obgleich dem Fenster zunächst, ließ sich am schwersten erkennen, weil er dem Fenster den breiten Rücken zuwandte. Dieser dritte aber erregte Wirri's Neugier am meisten, weil Addrich und selbst der stolze Schwede demselben mit einer gewissen Auszeichnung zu begegnen schienen. Doch weder aus dem runden Filzhute, von dem ein kurzer Federbusch herniederhing, noch aus dem braunen, halbtuchenen, weiten Wamms ohne Ärmel, das bis zur Hüfte reichte, und ein kurzes grauwollenes Ärmel- oder Unterwamms bedeckte, noch aus den weiten, faltenreichen Hosen, die sich beim Knie zuspitzten und dann über den lederfarbenen Wollenstrumpf bis zur Mitte der kurzen, dicken Wade reichten, ließ sich etwas Bestimmtes erraten Erst als Addrich mit der Hand eine zum Fortgehen einladende Bewegung machte und der Fremde sich umwandte, konnte ihn Wirri besser beobachten. Er glaubte dies kräftige, ernsthafte Gesicht mit dem kurzen Spitzbart am Kinn, mit dem steif nach beiden Seiten zugespitzten, katzenartigen Knebelbart über den zusammengebissenen Lippen, die breite, hohe Stirn, die bei den Augenbrauen wulstig über die Nasenwurzel niederhing, schon irgendwo gesehen zu haben. Als der Hinweggehende einen trotzig drohenden Blick gegen das Fenster zu werfen schien, da erkannte Wirri den Mann und prallte einen Schritt zurück. Es war kein anderer als der Feldhauptmann der luzernischen Aufrührer, Christen Schybi von Eschlismatt, den er in Wollhausen gesehen hatte.
»Nun weiß ich, was die Glocke geschlagen hat,« brummte