„Du siehst aus wie die Königin von Saba“, hatte Susanna sie geneckt, doch der unglückliche Gesichtsausdruck ihrer Schwester hatte ihr verraten, daß selbst die kostbarsten Juwelen der Welt sie nicht für die Qualen entschädigen konnten, die sie in der Gesellschaft des Marquis erdulden mußte.
„Bist du sehr unglücklich, May?“
May hatte ihre Schwester nicht angesehen, sondern in den Spiegel gestarrt, als sähe sie darin nicht sich selbst, sondern ein Bild aus früheren, glücklicheren Tagen.
Für einen Augenblick hatte Susanna befürchtet, sie werde ihr überhaupt nicht antworten, doch dann hatte May mit merkwürdig alt klingender Stimme gesagt: „Ich kann nicht darüber sprechen, Susanna. Es gibt nichts zu sagen, nichts, was ich tun könnte, also stell’ mir keine Fragen.“
Danach war May ihr ausgewichen, bis sie mit der eleganten Reisekutsche an der Seite des Marquis davongefahren war.
Zum Abschied hatte sie Susanna einen Kuß gegeben und sie einen Augenblick länger umarmt als sonst, so als wollte sie sich festklammern und könnte es nicht ertragen, sich von ihr trennen zu müssen.
Obwohl keine von ihnen ein Wort gesagt hatte, wußte Susanna, daß es May Höllenqualen bereitete, ihr Vaterhaus verlassen und mit dem Mann wegfahren zu müssen, den sie haßte, zu dem sie jetzt aber gehörte.
Das darf mir nie passieren, hatte Susanna damals gedacht.
Und während sie jetzt von der Salontür aus vernahm, welche Pläne ihre Mutter mit ihr hatte, empfand sie das als unerbittlichen Schicksalsschlag.
Sie schloß ganz leise die Tür, wandte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, die Stufen hoch zu ihrem Schlafzimmer, das neben dem Schulzimmer im dritten Stock lag.
In London war das Kinderzimmer zum Unterrichtsraum geworden, nachdem Nanny durch eine Gouvernante ersetzt worden war.
Während Nanny so etwas wie eine ständige Einrichtung gewesen war, wechselten die Gouvernanten ständig, weil sie mit Lady Lavenham ständig aneinandergerieten, die sie der Unfähigkeit zu bezichtigen pflegte.
„Ich will Ihnen mal was sagen, Mylady“, hatte eine der Erzieherinnen in Susannas Gegenwart auf einen derartigen Vorwurf erwidert. „Ich war zehn Jahre lang bei der Gräfin Bressington angestellt, und sie war sehr zufrieden mit mir.“
Ihr wurde trotzdem gekündigt, ebenso ihren beiden Nachfolgerinnen. Doch dann war etwas geschehen, das für Susanna wie ein Wunder war. Miss Harding hielt Einzug in ihrem Haus, eine Lehrerin, deren taktvollem Benehmen es zu verdanken war, daß Lady Lavenham sie mit gnädiger Herablassung gewähren ließ, und die es vor allem verstand, das Interesse ihrer Schülerinnen zu wecken, ihre Phantasie zu beflügeln und sie in ihrem Lerneifer zu bestärken.
May hatte zu ihrem größten Bedauern nur ein Jahr Unterricht bei Miss Harding, dann war sie verheiratet worden, aber Susanna kam zwei Jahre lang in den Genuß dieses vielseitigen Unterrichts.
Für sie war Miss Harding eine Offenbarung. Sie kannte nicht nur eine Antwort auf alle Fragen, sondern verstand es auch, Susannas Wißbegierde so zu steuern, daß sie bald imstande war, die Antworten selbst zu finden.
Lady Lavenham hatte im Grunde nicht das geringste Interesse daran, daß ihre Töchter ein gut fundiertes Wissen vermittelt bekamen, ihr ging es nur darum, daß die beiden die französische und die italienische Sprache fließend sprechen konnten.
Lord Lavenham hielt nichts davon. Er erwähnte oft, wie ermüdend er es fand, anläßlich eines Banketts in Sandringham ständig vom Englischen ins Französische wechseln zu müssen, manchmal sogar innerhalb eines Satzes.
Für Lady Lavenham gehörte es jedoch zu den goldenen Lebensregeln, daß ihre Töchter in dieser Hinsicht mithalten konnten.
Was ihnen sonst noch beigebracht wurde, war ihr völlig gleichgültig, Hauptsache, sie konnten später einmal ein großes Haus führen, Rechnungen addieren und Schecks ausschreiben.
Sie selbst befaßte sich allerdings nie mit solchen Banalitäten, dafür hatte sie ihre ungemein tüchtige Sekretärin. Aber ihren Töchtern schärfte sie ein, sich diese Fähigkeiten unbedingt anzueignen.
Das unterschied Lady Lavenham übrigens von den meisten ihrer Zeitgenossinnen, die nur die Kunst des Geldausgebens beherrschten, das jedoch mit beachtlichem Erfolg.
Susanna hatte sich dagegen aufgelehnt, sich nur auf Rechenaufgaben und das Pauken von französischen und italienischen Vokabeln zu beschränken.
Zunächst hatte sie sich vor allem für Geschichte interessiert, später dann begannen die Werke der Weltliteratur sie zu fesseln, die sie mehr ansprachen als die gerade in Mode befindlichen Unterhaltungsromane oder die faden Kurzgeschichten in den Magazinen für die Dame.
Wenn sie mit Lesen beschäftigt war, konnte sie vergessen, daß ihr Vater enttäuscht von ihr war und ihre Mutter sich ihrer schämte, und sie dachte auch nicht mehr an ihr unansehnliches Spiegelbild.
Miss Harding war es auch gewesen, die sie in die schönen Künste einführte, ihr die Bedeutung der Gemälde erklärte, die im Haus hingen, und mit ihr zusammen die Kunstwerke der Nationalgalerie bewunderte.
Ihr war bis dahin gar nicht bewußt gewesen, wie wenig ihre Mutter über diese Dinge wußte. Sie kümmerte sich mehr um die Pflanzen im Wintergarten und die Treibhausblüten, die den Salon schmückten, als um die Kunstschätze, die von den Ahnen der Lavenhams im Laufe der Jahrhunderte zusammengetragen worden waren.
Für Susanna eröffneten sie eine völlig neue Welt. Zusammen mit Miss Harding durchstöberten sie Buchläden nach Reproduktionen der Gemälde, die in den berühmten europäischen Galerien gezeigt wurden, wie dem Louvre in Paris und den Uffizien in Florenz.
Jedes Mal, wenn sie ein Bild entdeckte, das ihr besonders gut gefiel, hatte sie das Gefühl, einen Schatz zu besitzen, der ihr gehörte, der sie auf wundersame Weise innerlich bereicherte.
Am Anfang des Jahres hatte es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, als Lady Lavenham Miss Harding wissen ließ, daß ihre Dienste nicht mehr benötigt würden und sie in drei Monaten gehen müsse.
Ohne weitere Erklärungen ihrer Erzieherin abzuwarten, war Susanna die Treppe hinuntergestürmt und ohne anzuklopfen ins Boudoir ihrer Mutter eingedrungen, was sie normalerweise nie gewagt hätte.
„Ist das wahr, Mama?“ schrie sie empört. „Du hast Miss Harding gekündigt? Warum? Warum muß sie gehen? Ich kann es nicht ertragen, sie zu verlieren!“
Lady Lavenham lag malerisch ausgestreckt und in eines der hauchdünnen Chiffon-Negligés gehüllt, die in dieser Saison die große Mode waren, auf der Chaiselongue.
Susanna stellte sich vor, daß es eine große Erleichterung für die Trägerin eines eng geschnürten Korsetts sein mußte, das lästige Ding wenigstens für ein paar Stunden am Tag ablegen zu können.
Sie war zu unschuldig, um zu erkennen, daß diese Nachmittagsgewänder einen ganz anderen Zweck erfüllen sollten. Ihr entging allerdings, daß ihre Mutter in London zuweilen den König oder andere Herren in ihrem Boudoir empfing und dann unter keinen Umständen gestört werden durfte.
Zum Glück befanden sie sich gerade auf dem Land, und Lady Lavenham war allein. Der nächste Hausball sollte erst am folgenden Tag stattfinden.
„Dringe gefälligst nicht auf so ungehörige Weise in mein Boudoir ein“, tadelte Lady Lavenham in einem eisigen Ton, der ihre Tochter gewöhnlich erschauern ließ.
In diesem Augenblick war Susanna viel zu verstört und erregt, als etwas anderes als Zorn empfinden zu können.
„Warum hast du Miss Harding gekündigt, Mama?“ fragte sie erneut mit bebender Stimme.
„Du bist dumm wie immer“, tadelte Lady Lavenham ihre Tochter. „Dein Haar ist unordentlich, und auf deinem Kleid ist ein häßlicher Tintenfleck.“
„Ich habe dir eine Frage gestellt, Mama!“
„Dann