Ich riss das Päckchen auf und überflog den Text.
Sehr geehrter Herr Ziegenhals!
Das Manuskript WER SINGT, DER STIRBT haben wir inzwischen mit Interesse gelesen. Leider sehen wir jedoch keine Möglichkeit, diesem spannenden Roman einen günstigen Platz im Rahmen unseres Verlagsprogramms zu geben. Bitte, sehen Sie in unserer Ablehnung kein Werturteil. Wir beeilen uns, Ihnen das Manuskript wieder zur Verfügung zu stellen, und danken Ihnen, dass Sie uns eine Prüfung ermöglicht haben...
Ein sauberer, ein vornehmer gelber Bogen, exakte Buchstaben, die Manifestation einer hochmütigen Macht. Ich zerknüllte ihn und warf das Papier aus dem Fenster. Einen Augenblick lang spürte ich den Impuls, mich hinauszustürzen, hinunter auf das graue Pflaster, das so herrlich nach Staub, Dreck und Urin roch. Ein berauschender Gedanke! Aber was war das Berauschende daran, die Angst vor dem Tod oder das Glück, dieser beschissenen Welt endlich entrinnen zu können?
Ich raste. Dieser verdammte Armleuchter von Lektor! Hätte ich ihn vor mir gehabt, ich hätte ihn zusammengeschlagen, ich hätte ihn zerfleischt!
Mein Hass gegen die, die das waren, was ich nicht sein konnte, wuchs und wuchs, überflutete mich, trieb mich zum Fenster, wollte mich zum Sprung zwingen.
Schon taumelte ich, schon gab ich nach, denn in diesem Moment schien es mir, als könnte ich ohne Rache und Triumph nicht weiterleben. Und die Gewissheit, beide Ziele niemals erreichen zu können, folterte mich irgendwie, sodass ich den Tod, das neutrale Nichts, als einzige Erlösung ansehen musste.
Da fiel mein Blick auf die Fotokopie der amerikanischen Arbeit und zugleich auf die deutsche Dissertation. Jäh verhielt ich.
Na wartet, ihr großen aufgeblasenen Herren, ich werde euch in Angst und Schrecken versetzen! Ich werde mir einen herauspicken und ihn fertigmachen. Einen stellvertretend für euch alle!
Ich weiß, das alles klingt verdammt nach Klamotte, aber genau das habe ich gedacht. Gedanken erregter Menschen sollen ja selten erhaben sein. Ich kann mich eben nicht besser ausdrücken, nicht anders verständlich machen!
Bernd Ziegenhals als Erpresser! Nachdem ich bis dato lediglich einen 65er VW gestohlen, einem betrunkenen Münchner am Stuttgarter Platz die Brieftasche aus dem Jackett gezogen, einen Tunesier krankenhausreif geschlagen, einer Wirtin 55 Mark Miete vorenthalten, mehrere kleinere Ladendiebstähle verübt und ein Jahr lang von der Arbeit einer gutmütigen Prostituierten gelebt hatte, war das zumindest ein Fortschritt. Aber bisher hatte man mich ja auch nicht erwischt ... Den Schluss aber, ich sei ein geborener Verbrecher, dürfte das alles noch lange nicht rechtfertigen.
Ich hatte also wieder ein Ziel, das Leben lohnte sich plötzlich, der Tag brachte endlich mal was Neues. Ich schaltete mein Transistorgerät ein, tanzte nach der Yellow Submarine-Melodie über die morschen Dielen und suchte meinen besten Anzug heraus. Dann kämmte ich mich. Derart verbürgerlicht nahm ich mein Frühstück zu mir, das zur Feier des Tages aus dem letzten Zipfel echter deutscher Landleberwurst bestand.
Jetzt erst konnte ich mich dem Problem widmen, wie ich ohne einen Pfennig Geld in der Tasche zur Universität gelangen sollte. Zu Fuß von Kreuzberg nach Dahlem waren es gute vier Stunden. Ich war aber nicht verrückt. Verdammt, ich hätte Hohenbergs Geld nicht so schnell verpulvern sollen! Erst das Fußballspiel im Olympiastadion, dann das Besäufnis in der Heißen Ecke und schließlich die Gebühr für die Benutzung von Babsy. Wie sollte man da was sparen? Obwohl mein Großvater selig immer zu sagen pflegte, spare in der Not, dann hast du Zeit dazu.
Jedenfalls brachte mich die Assoziation Babsy-Miezi auf die glorreiche Idee, es bei meinem kleinen Engel zu versuchen. Ich ging auf den Flur hinaus, wo ich im Halbdunkel über eine von Miezis Presskohlen stolperte. Nach der schönen Devise „Denk daran, schaff Vorrat an!“ ließ sie sich alljährlich im Herbst von ihrem Kohlenhändler drei oder vier Zentner Briketts hier oben aufstapeln. Ein Eros-Center war unsere Wohnung also weiß Gott nicht. Ob er es wusste?
Still und zart klopfte ich an ihre Tür.
„Feierabend!“
„Ich will ja gar nicht!“ Dieses verdammte Weibsbild hatte wirklich nichts anderes im Kopf. „Kannst du mir wohl fünf Mark pumpen ...?“
„Hau ab, lass mich schlafen!“
„Bitte, Mieze ...!“
„Ich hab nischt!“
„Schwindel doch nicht! Der Lord eben war doch nicht umsonst hier ...“
Der Lärm lockte Opa Melzer herbei. Er war einundsiebzig, stets ungewaschen und leicht schwachsinnig und ganz versessen darauf, sich an Miezis kommerziellem Liebesleben zu erfreuen. Zu diesem Zweck hatte er sich sogar ein markstückgroßes Guckloch in die Tür gebohrt. Nur wenn kein Freier in Sicht war, wagte er sich aus seinem Verschlag heraus. Schließlich waren wir alle eine große Familie. Miezi verdiente das Geld und füllte unser trautes Heim mit lieben Gästen, Opa Melzer verrichtete die kleinen Hausarbeiten, die so anfallen, und reparierte unser Klo, wenn’s mal zusammenkrachte oder verstopft war mit Miezis berufsbedingten Abfällen, und ich übernahm alle kaufmännischen Aufgaben, verkehrte mit den Behörden und sorgte mit meiner Bildung für einen hohen kulturellen Standard unserer Lebensgemeinschaft.
„Wat is ’n los?“, nuschelte Opa Melzer.
„Kannst du mir ’en Fünfer borgen?“
„Nee, ick bin pleite! Der Dumme nur sein Geld verscharrt, der Kluge kauft sich Engelhardt!“ Worauf er sich aufatmend von einem gewaltigen Magenwind befreite und flugs den Werbespruch variierte. „Wenn das Bier im Hintern knarrt, ist’s bestimmt von Engelhardt!“
„Dann mach ’nen Abgang, los, los, avanti!“ Ich scheuchte Opa Melzer in sein Kabuff zurück und zog die Tür zu. Seine beiden Meerschweinchen sorgten stets für einen bestialischen Gestank.
„He, Miezi, was ist denn nun?“ Ich spähte durch den Riss in der braunen Holztür. Sie lag nackt auf dem zerwühlten Bett und starrte gegen die Decke. Ein Körper, ein paar Schenkel, ich kann Ihnen sagen! Ich hämmerte gegen die Tür. Endlich erhob sie sich, ging zu ihrer Handtasche, wühlte darin herum und kam schließlich mit einem Fünf-Mark-Schein zur Tür.
„Lass mich rein!“, bettelte ich.
„Du hast wohl ’ne Macke! Ick arbeite doch nich im Akkord! Hier ...“ Sie schob mir den Schein durch den Spalt.
„Danke, mein Engel!“
„Schöner Engel ...“ Sie warf sich kichernd aufs Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Mein Startkapital hatte ich also. Was würde ich daraus machen können, tausend Mark, zehntausend, hunderttausend ...?
Es war halb neun, als ich auf die Straße hinaustrat. Die Sonne schien, der Tag war schön, offenbar billigten die himmlischen Instanzen mein Tun. Ich bog in die Adalbertstraße ein, bis zur Hochbahn waren es knapp zehn Minuten.
Prinzenstraße, Hallesches Tor, Möckernbrücke und so weiter, nicht mal zwanzig Stationen bis zum Bahnhof Thielallee. Was wohl mein Opfer in diesen Minuten gerade trieb ...?
3. Kapitel
Tagebuchaufzeichnungen von Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk.
Anhand