„Der große Hodenberg, wie schön!“, sagte ich.
„Was, bist du etwa Mitglied hier?“
„Natürlich bin ich mit Glied hier!“, lachte ich.
Da er mir nicht ganz folgen konnte, entstand eine kleine Pause, drei, vier Sekunden vielleicht, und in dieser Pause muss ihm eingefallen sein, dass er besser zu Hause an seinem Referat gearbeitet hätte, als hier Vorträge zu halten. Gleichzeitig muss er sich auch daran erinnert haben, dass ich ihm schon mal wissenschaftliche Handlangerdienste geleistet hatte.
„Du, hör mal zu ... Ich muss ein Referat machen, hab aber im Augenblick keine Zeit ...“ Er wühlte in seiner Aktentasche herum und förderte einen prall gefüllten schwarzgrauen Leitz-Ordner zutage. „Steht alles hier drin ... Kannst du mir helfen ...?“
„Hm, das ginge schon ... Aber umsonst ist nicht mal der Tod. Was würdest du denn ausspucken?“
„Dreißig Mark vielleicht ...“
„Fünfzig wären mir lieber, ich bin nämlich ziemlich blank.“
„Na schön. Such alles Material zusammen, das du finden kannst, und schick mir den Mist zu. Vielleicht kannst du auch schon ein paar Kapitel fertig machen ...“
„Ohne Anzahlung kaum ...“
Hohenberg drückte mir noch schnell und unauffällig dreißig Mark in die Hand, dann nahten die lokalen Funktionäre und eröffneten die Versammlung.
Aber ich kam erst am übernächsten Abend dazu, mir die Unterlagen genauer anzusehen, die ich von Hohenberg bekommen hatte. Vorher hatte ich mir sicherheitshalber ein paar einschlägige Arbeiten aus der Universitätsbibliothek besorgt. Dabei machte ich eine höchst interessante Entdeckung ...
Der ehrwürdige hohe Herr, der den fiesen Hohenberg mit der Anfertigung des Referats beauftragt hatte, war bei Licht besehen durch einen genialen Betrug zu Amt und Würden gekommen. Er hatte im Jahre 1951 – Gott, da war ja alles möglich! – kurzerhand eine unbekannte amerikanische Arbeit ins Deutsche übersetzt und als eigene Dissertation eingereicht. Nicht schlecht. Und wäre es ein armer Teufel gewesen, still, bescheiden, stotternd, schielend, triefäugig und impotent, dann hätte ich mich für ihn gefreut, dass es so gut geklappt hatte. Aber er war – ich kannte ihn sozusagen vom Sehen – ein bekotzter, arroganter und hochmütiger Star. Richtiges Establishment. Ein Mann mit einem Dutzend höchst ergiebiger Ämter, Erbe eines beinahe siebenstelligen Vermögens, der Stolz aller Gestrigen und Vorgestrigen, aller mit dem Status quo höchst zufriedenen Zeitgenossen – und noch dazu einer, der Fortschrittlichkeit tonnenweise heuchelte.
Ich hasse diese Leute ebenso, wie ich sie beneide. Ich kann nicht anders, ich muss alles tun, um sie zu vernichten, und dennoch – da mache ich mir gar nichts vor – ersehne ich nichts anderes als ihren Status, ihre Liebe und ihre Achtung. Ich bin ein Gammler, ein Arbeitsloser, ein Versager, ein asoziales Element, ein Krimineller gewesen, aber ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, ein außergewöhnlicher Mensch zu sein. Ich bin süchtig nach Größe, nach Publicity, nach Macht, nach Einmaligkeit, nach Titeln, Orden und Denkmälern. Ich möchte eine Villa an der Riviera haben, einen roten Jaguar fahren, mit immer neuen Starlets schlafen, bei Tiffany Brillanten kaufen, im Waldorf Astoria wohnen, Ehrenkompanien abschreiten, die Titelseiten der Illustrierten zieren, in den Lexika ganze Spalten füllen, zwei Biografen beschäftigen – und so weiter und so weiter!
Doch ich scheue jeden Anfang, fürchte den Kampf und die Tat – ich liebe die Ruhe, das Denken, das Träumen. Nur dadurch, dass ich manchmal schreibe, kann ich mit diesem Widerspruch leben.
Doch zur Sache!
Hohenberg, der ein Jahr lang mit einem erdienerten Stipendium in Durham, North Carolina, studiert hatte, war mit einem Haufen Fotokopien zurückgekommen, die ich im Laufe der Nacht sichtete. Gegen vier Uhr morgens, als meine Wermutvorräte langsam zur Neige gingen, fiel mir dann die fragliche Doktorarbeit in die Hände. Übermüdet – wie ich war – hielt ich es zuerst für einen Zufall, dass sich die einzelnen Überschriften und Sätze in beiden Arbeiten so herrlich glichen, dann stutzte ich, und in einem sogenannten Aha-Erlebnis wurden mir die Zusammenhänge plötzlich klar.
Eine geschlagene Stunde starrte ich abwechselnd auf die sandpapierartigen Blätter, die Hohenberg damals in Durham aus dem Fotokopierautomaten gezogen hatte, und die leicht vergilbten Seiten der Dissertation. Ich kam mir vor wie ein Goldsucher, der nach Jahren des erfolglosen Schürfens und des Dahinvegetierens urplötzlich auf eine Ader gestoßen war. Ich war sofort bereit, die Sache auszubeuten. Fiebernd verglich ich Satz für Satz.
In every society numerous proccsses of social change are occurring simultaneously ... In jeder Gesellschaft laufen zur selben Zeit zahlreiche Prozesse des sozialen Wandels ab ... We have found an increasing specialization of Organs or subunits in the social System of our village ... Wir haben im sozialen System unseres Dorfes eine wachsende Spezialisierung der Organe oder Untereinheiten gefunden.
Kein Zweifel, eine wortwörtliche Übersetzung!
Dann schlief ich ein, glücklich wie ein reich beschenktes Kind, und zum ersten Mal seit Jahren freute ich mich wieder auf den nächsten Tag.
Als ich dann erwachte, hatte ich alles vergessen. Ich starrte minutenlang auf einen platten Käfer, der auf dem Rand meines Nachttopfs entlangbalancierte und immer wieder in den verdammt milchigen Urin zu stürzen drohte. Ob ich wirklich was an den Nieren hatte? Unsere Toilette, die ich mit zwei anderen Mietern teilen musste, befand sich am Ende eines muffigen Korridors, den ich nachts immer mied. Meine Angst vor Ratten und lauernden Gestalten ist wohl krankhaft.
Ich gähnte. Mir war übel, und ich fürchtete jeden Augenblick, mich übergeben zu müssen. Meine Füße, die unter der unbezogenen Wolldecke hervorschauten, sahen so gelblich aus wie die eines Greises und mieften gewaltig.
Nebenan wurden Stimmen laut. Offenbar entließ Miezi einen Kunden, der sich eine ganze Nacht lang leisten konnte. Ich hatte schon die ganze Zeit über Lust gehabt, und nun würde Miezi sicherlich die ... die Nase voll haben. Ich fluchte. Ich hatte ihr vorgestern den Staubsauger repariert, und sie war mit der Bezahlung noch ein wenig im Rückstand. Eine Tür fiel zu, Miezi drehte ihren Schlüssel herum. Scheibenkleister!
Als ich dann meinen Hormonspiegel selber senken wollte, klingelte es. Dreimal. Also Ziegenhals! Ich rutschte von meiner wackligen Liege, zog mir schnell eine Badehose über und riss meine Tür auf. Vielleicht der Geldbriefträger, vielleicht der Bundeskanzler! Ich dachte immer solchen Quatsch, wenn es klingelte. Ich glaubte jedes Mal, es würde jemand draußen stehen, der mich mitnahm und irgendwohin entführte, wo alles anders war, wo man sich plötzlich wieder wie ein Kind fühlte, das sich im Wohnzimmer ein Indianerzelt aufgebaut hat, während die Mutter in der Küche Schokoladenpudding kocht. Aber es standen nur immer Vertreter draußen, die ich schon deswegen hasste, weil eben nicht meine Mutter gekommen war, mein Vater, ein Mann vom Verlag, der mir einen Vertrag brachte, ein Mädchen, das mich liebte und brauchte, ein Freund, der mich nicht nur als Mittel zum Zweck benutzen und ausbeuten wollte.
Diesmal war es der Briefträger. Ein plattfüßiger Brillenträger mit Glupschaugen.
„Morgen, Meister! Wieder kein Nobelpreis in Aussicht!“ Er hielt mir ein sorgfältig verschnürtes Päckchen vor die Nase, auf dem ein rötlicher Zettel lag. „Ein Einschreiben! Bitte quittieren Sie!“
Wortlos kritzelte ich meinen Namen auf die dafür vorgesehene Linie, gab dem guten Mann den Wisch zurück und zog mich mitsamt dem Päckchen in meine Bruchbude zurück. Wieder ein Manuskript, das niemand haben wollte, wieder Fehlanzeige!
Ich war so verzweifelt wie etwa 1953 bei der Beerdigung meiner Großmutter. Damals hatte ich den letzten Menschen verloren, der mich geliebt und behütet hatte, jetzt verlor ich mich selbst, verlor meine Zukunft. Ich hatte mich rettungslos in die Idee verrannt, mit einem meiner schwachsinnigen Romane Erfolg zu haben und dadurch endlich zum entscheidenden Aufbruch gezwungen zu werden. Ich hatte ja keine andere Chance mehr, mich mit eigener Kraft aus meiner elenden Umwelt zu befreien.