Am 11. März, als er die Folgen seiner Gehirnerschütterung schon weitgehend überwunden hatte, ließ Opa Melzer der Oberschwester sagen, er habe eine wichtige Aussage im Mordfall Miezi Ihlow zu machen und sie möge doch bitte Herrn Oberkommissar Rannow benachrichtigen.
Knappe vierundzwanzig Stunden später stand Rannow am Bett des Alten und schüttelte ihm die Hand.
„Na, Opa Melzer, wird’s denn wieder werden?“
„Nee, Herr Kommissar, nee, mit mir is nich mehr ville Staat zu machen. Mittem Kopp, da jeht’s ja wieda, aba det Been will nicht mehr. Die morschen Knochen lassen sich nich mehr zusammennageln. Se ham ma zwar ’n Silbanagel vapasst, aba ick wer nie wieda richtich loofen könn ...“ Melzer begann zu weinen, und Rannow, der sich etwas hilflos vorkam, suchte nach einer Zigarre.
„Nun, lassen Sie mal den Kopf nicht hängen, wenn’s erst wieder Frühling wird ...“
Melzer richtete sich etwas auf. „Ick muss meine Wohnung uffjeb’n und rüba ins Hospital. Da lieg ick denn, bis ick sterbe.“ Dieser Gedanke hatte für ihn etwas Furchtbares und zugleich etwas Beruhigendes.
Rannow spürte das deutlich. „Das ist natürlich traurig, ja, aber überlegen Sie doch mal, Sie brauchen sich nun nicht mehr selbst an den Herd zu stellen, um was zu kochen, Sie brauchen keine Kohlen mehr hochzuschleppen – und Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, wenn Sie Ruhlsdorf, Drognitz oder Prötzel treffen ...“
Melzers Augen leuchteten. „Da ham Se int Schwarze jetroffen, Herr Kommissar, und darum hab ick Se ooch rufen lassen. Wenn ick jetzt auspacke, kann mir keener mehr an’n Kragen. Moment mal, mir is so kackrich um die Rosette ...“
Rannow verließ taktvoll das Krankenzimmer. Nachdem ein Pfleger nach einigen Minuten die Bettschüssel abgeholt hatte, ging er wieder ins Zimmer zurück. Unwillkürlich drückte er sich das Taschentuch vor die Nase.
„Nun seinse man nich so zimperlich, Herr Kommissar“, lachte der Alte. „Ick bin ja schließlich nich das Veilchen vom Potsdamer Platz.“
Rannow grinste. „Also, worum geht’s denn nun, Herr Melzer?“
„Um ’ne janze Menge ... Die Miezi hat vor zwee, drei Jahren mal ’ne Menge Jeld vadient, da hatte se ’n paar reiche Geschäftsleute, Pelze und so. Ick hab selbst jesehn, det se mehr als zehn Mille zusammen hatte ...“
„Was, 10.000 Mark?“
„Ja, det kann ick beschwörn!“, rief Melzer. „Und nu frag ick Ihnen: Wo is det Jeld wohl jeblieb’n?“
„Das frage ich Sie auch ...?“
„6000 Mark hatte sie Ziegenhals jeborgt, det weeß ick genau, det hatta mir azählt, und sie ooch. Davon hatta ja die janze Zeit üba jelebt. Und die restlichen viertausend, die hat ihr Prötzel jeklaut. Ick hab mit meine eijenen Oogen jesehn, wie der in ihren Schrank rumjewühlt hat ...“
„Und das erzählen Sie mir erst jetzt!“ Rannow schrieb eifrig mit. „Wissen Sie auch, was Ihre Aussage bedeutet ...?“
„Klar weeß ick det! Aba hätt ick eha den Mund uffjemacht, da hätten mir Ziegenhals und Prötzel zur Minna jemacht!“ Melzer verkroch sich ein wenig unter die Bettdecke.
Rannow versuchte, den Wahrheitsgehalt von Melzers Aussagen abzuschätzen. Prötzel hatte drei Monate in Tunesien verbracht, im Badeort Hammamet, das wusste er. Und zwar in der Gesellschaft einer nicht sehr billigen Dame. Gut möglich, dass er diesen Urlaub mit dem Geld der Ermordeten finanziert hatte. Ebenso sprach einiges dafür, dass Ziegenhals bei der Ermordeten in der Kreide gestanden hatte, er war ja niemals einer geregelten Arbeit nachgegangen.
„Und noch wat!“ Melzer richtete sich steil auf und starrte Rannow an. Jetzt kommt det Schönste: Kurz bevor die arme Miezi erwürgt worden is, war Prötzel in ihre Wohnung und is die Treppe runtajejangen!“
Rannow kratzte sich am Kopf und blickte ein wenig verwirrt auf den Mariannenplatz hinunter. „Seine Mutter behauptet aber, er sei den ganzen Abend über zu Hause gewesen.“
„Die Olle lücht.“
Der Oberkommissar steckte sich eine Zigarette an und suchte nach einem Aschenbecher. Es klang zu schön, um wahr zu sein. Die entscheidende Frage war, warum der alte Mann nun auspackte. War es nur deswegen, weil er sich jetzt in Sicherheit wähnte, oder kamen da irgendwelche Rachegefühle mit ins Spiel?
„Sagen Sie mal, Herr Melzer, hat Sie hier mal einer aus Ihrem Kietz, aus der Naunynstraße, besucht – Prötzel oder Ruhlsdorf ...? Und war Ziegenhals schon bei Ihnen ...?“
„Nee, keen Aas lässt sich hier sehn, die ham ma alle va jessen! Aus den Oogen, aus dem Sinn!“
Aha, dachte Rannow, da liegt also der Hase im Pfeffer.
Möglicherweise war Melzer auch schon ein wenig schwachsinnig und fantasierte sich da was zusammen.
Und wie zur Bestätigung sagte Melzer im gleichen Augenblick. „Und wissen Sie ooch, det Prötzel ma übafahrn hat? Ja, der wollte ma ermorden, weil ick zu ville weeß!“
Jetzt hatte Rannow genug. Er verabschiedete sich mit ein paar trostreichen Worten und fuhr in sein Büro zurück.
Er war sich lange Zeit unschlüssig darüber, was er mit Melzers Aussage anfangen sollte. Was wogen die Beschuldigungen eines senilen alten Mannes? Prötzel hatte für die Tatzeit das Alibi seiner Mutter, und auf die Frage, mit welchem Geld er die drei Monate Tunesien finanziert habe, würde er bestimmt eine Antwort parat haben. Und Ziegenhals? Den wollte eine Bardame etwa zur Tatzeit im Iglu gesehen haben, und ein etwas merkwürdiger Wissenschaftler namens Kolczyk behauptete, ihm eine größere Geldsumme geliehen zu haben. Was es doch für edle Menschen gab! Rannow spürte, dass hier etwas faul war, aber er wusste auch, dass er im Augenblick keine Chance hatte, näher nachzuhaken. Er litt darunter, wie immer. Herbert Rannow liebte eine Welt, in der alles ordentlich, gewiss und beständig war, in der alle Gleichungen aufgingen. Ein ungelöstes Kreuzworträtsel brachte ihn um den Schlaf, und ein ungelöster Mordfall war für ihn wie eine schwere Krankheit.
Nur um sich selbst zu beweisen, dass Opa Melzer ein Spinner war, ließ er sich mit dem Postsparkassenamt Hamburg verbinden und bat den zuständigen Beamten, ihm doch freundlicherweise per Fernschreiben alle früheren Salden der Marianne Ihlow schnellstmöglich zu übermitteln.
Gegen Abend lief das Fernschreiben aus Hamburg ein. Miezi hatte einmal 11.453,45 DM besessen und sie bis auf 722,45 DM abgehoben.
Am nächsten Morgen, am 13. März, stand Oberkommissar Herbert Rannow in der Grunewaldstraße und drückte auf den weißen Klingelknopf neben dem Schildchen B. Ziegenhals.
Drinnen im Haus rührte sich nichts. Rannow versuchte es noch einmal; es war erst acht Uhr, und um diese Zeit pflegte Ziegenhals noch zu Hause zu sein. Rannow hatte sich im Milchladen nebenan ein paar Hustenbonbons gekauft und sich so nebenher ein wenig erkundigt. Ziegenhals sollte das Haus noch nicht verlassen haben.
Rannow wurde langsam ungeduldig. Er machte ein paar Schritte zum Botanischen Garten hin und versuchte, in die einzelnen Fenster zu gucken.
In diesem Augenblick öffnete Ziegenhals die Haustür. Er trug einen dunkelbraunen Trainingsanzug und sah beängstigend blass aus. Mit unsicheren Schritten kam er Rannow entgegen und begrüßte ihn.
„Ich hätte Sie gerne ein paar Minuten gesprochen“, sagte Rannow, nachdem er ihm die Hand gegeben hatte.
„Wir können uns ins Zimmer von Frau Braatz setzen“, schlug Ziegenhals vor.
„Ick komme lieber zu Ihnen mit rauf ...“
„Da sieht es schlimm aus, ich habe ... wir haben gerade ... Das möchte ich Ihnen nicht zumuten!“
„Ich bin hart im Nehmen, kommen Sie man!“ Rannow ging voran.
Als er die zweite Etage erreicht hatte, blieb er stehen und sog schnuppernd die Luft ein. „Hier riecht es ja schlimmer als