8. Kapitel
Tagebuchaufzeichnungen von Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk.
Anhand aufgefundener Fragmente vom Autor rekonstruiert.
Wieder klappte die Tür, und das war nun schon der zehnte Student, der den Hörsaal 108 verließ. Wenn es mir nicht bald gelang, die störenden Gedanken an Ziegenhals zu unterdrücken und mich wieder zu konzentrieren, dann konnte ich meine Vorlesung ‚Die amerikanischen Gewerkschaften‘ aus dem Verzeichnis streichen lassen.
„Wir kommen nun ... äh ... Wir wollen uns nun den theoretischen Grundlagen der amerikanischen Gewerkschaften zuwenden, den Grundlagen und Leitsätzen, die sie hervorgebracht ... Also, die sie entwickelt haben. Wohl haben der Unternehmerindivida ... der Unternehmerindividualismus und die gleichzeitige ... und die gleichzeitige Laissez-faire-Haltung der Regierung zwischen Bürgerkrieg und New Deal oftmals in eine bedauernswerte ... die Arbeiter oftmals in eine bedauernswerte Lage gebracht ...“
Irgendwo wurde Gelächter laut, ich griff zum Wasserglas, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Der Anruf vorhin hatte mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Da hatte ich nun das Florett so brillant geführt, und dennoch war der Stoß pariert worden! Ich hatte niemals geglaubt, dass Ziegenhals diesen Trick durchschauen würde.
Darum tröstete es mich nur wenig, dass mir Rannow meinen Anzug zurückgeschickt hatte, ohne Sperma, Speichel oder herausgerissene Fasern gefunden zu haben.
Doch damit hatte er mich noch längst nicht von der Liste der Verdächtigen gestrichen ...
Als Cloward, der meine Schwierigkeiten bemerkt haben musste, das Fenster aufgestoßen hatte, ging es wieder besser. Allmählich konnte ich meine Fassung zurückgewinnen.
„... und die amerikanischen Arbeiter hatten also niemals institutionell verfestigte Formen der Unterdrückung kennengelernt. So konnte ein echtes Klassenbewusstsein ebenso wenig entstehen wie der Glaube an die Überlegenheit der Arbeiterklasse oder des Arbeiters in der Gesellschaft. Folglich konnte das Ziel einer Gewerkschaftsbewegung auch nicht die Verewigung eines Klassenzustandes sein ...“
Die Krise war vorüber, ich konnte aufatmen.
Während ich weitersprach, nun wieder ruhig, sicher und prononciert, kam mir ein Vers von Rückert in den Sinn: Schlägt dir die Hoffnung fehl, nie fehle dir das Hoffen! Ein Tor ist zugetan, doch tausend sind noch offen ... Es gab noch so viele Möglichkeiten für mich, das Duell mit Ziegenhals endgültig zu meinen Gunsten zu entscheiden!
Am Ende der anderthalb Stunden, als meine Studenten erleichtert auf den breiten Flur hinausströmten, erwartete mich Cloward an der Tür.
„Hallo, Rüdi!“
„Hallo, Johnny!“
Wir hatten uns im September 1966 beim 6. Weltkongress für Soziologie in Evian kennengelernt, und ich hatte ihn von Anfang an sehr sympathisch gefunden. Er war zwar schon dreißig Jahre alt, aber ich hätte es trotzdem gern gesehen, wenn er sich um meine Tochter beworben hätte. Doch Ginny hielt ihn für einen Playboy und er sie für ein tugendhaftes Gretchen, das lieber Gedichte las und Mozarts Klarinettenkonzert A-Dur – Köchelverzeichnis 622 – hörte, als mit ihm Leben und Liebe zu genießen.
„Kommst du mit, ein Brötchen essen?“, fragte Johnny, der ebenso gut Deutsch spricht wie ich Englisch.
„Kann ich machen, ich habe mächtigen Hunger.“ Ich ging mit Cloward in den Keller hinunter, obwohl ich nicht den geringsten Appetit verspürte und am liebsten allein gewesen wäre. Aber ich durfte mir den Amerikaner nicht verärgern – ich brauchte ihn noch; er war eine sehr wichtige Figur in meinem Spiel.
Nachdem mir Opa Melzer verraten hatte, wohin Ziegenhals verzogen war, hatte ich mich kurzerhand aufgemacht und sein neues Domizil unter die Lupe genommen. Im Feinkostgeschäft gegenüber hatte man mir gesagt, Muttchen Braatz habe noch ein weiteres Zimmer zu vermieten – und ich hatte sofort begriffen, welche Trumpfkarte mir da plötzlich in die Hand gespielt worden war: Cloward suchte seit Wochen nach einer angemessenen Unterkunft ...
Eine halbe Stunde später hatte ich das Zimmer in seinem Namen gemietet. Der frei gewordene Raum – mit Küchen- und Badbenutzung – war von einem Ehepaar bewohnt worden, das ins Altersheim gegangen war. Ich ließ mir zwei Hausschlüssel von Muttchen Braatz geben, händigte Cloward später aber nur einen aus; den andern behielt ich.
Cloward sah ich fast jeden Tag, und meist gelang es mir, ihn geschickt auszufragen, sodass ich immer aufs Genaueste wusste, was sich bei Ziegenhals zugetragen hatte. Einen besseren Spion als den Amerikaner konnte ich mir gar nicht wünschen. Und wenn Ziegenhals wirklich merkte, dass ich mit Cloward befreundet war, dann schadete es auch nichts: Es würde ihn höchstens unsicher machen, und das konnte mir nur recht sein.
Endlich waren wir an der Reihe und konnten unsere Wurstbrötchen in Empfang nehmen. Wir kauften uns noch jeder eine Flasche Florida Boy und suchten uns einen Tisch am Ende des lang gestreckten Raumes.
Behutsam lenkte ich dann das Gespräch auf Clowards Wirtin, indem ich mich erkundigte, ob er hier in Berlin immer noch so viel Erfolg bei den Mädchen habe wie damals in Evian am Genfer See.
„Danke, ich kann mich nicht beklagen ...“ Dann erzählte er mir in aller Ausführlichkeit von Muttchen Braatz und ihren Schrullen; dann erst kam er endlich auf Ziegenhals zu sprechen: „Der Mann ist völlig durcheinander – leidet offenbar unter Halluzinationen, Verfolgungswahn, was weiß ich ... Eine richtige Arbeit hat er auch nicht.“
Ich muss gestehen, dass ich diese Ausführungen mit innerem Frohlocken vernahm. Wenn das schon die Reaktion auf das gefälschte Statement von Charles Emery war, dann konnte ich wieder hoffen. Schön, er hatte den Trick schließlich durchschaut; er schien aber nichtsdestoweniger in eine nervliche Krise geraten zu sein.
„Ich hab mich ein bisschen mit ihm angefreundet“, sagte Cloward, „aber er ist irgendwie – scheu, ja? Scheu und verstört ... Er muss ein Problem haben, mit dem er nicht fertig wird. Ich möchte wetten, irgendwann dreht der mal durch und wirft sich vor die U-Bahn.“
Vieles, was ich daraufhin in den nächsten Tagen und Wochen tat, scheint auf den ersten Blick albern und kindisch und höchst absurd zu sein; doch es hatte Methode. Meine Strategie war klar: Ich musste Ziegenhals zum Selbstmord treiben.
Mit jeder Selbstmordhandlung wird ein Rückzug aus einer unerträglichen Situation angestrebt. Und ich wollte Ziegenhals so unsicher machen, so ängstigen, so isolieren, dass das Leben unerträglich für ihn wurde – jeden Tag eine kleine, vergiftete Injektion ... Um ein präsuizidales Syndrom in ihm aufzubauen, musste ich an sich belanglose Scherze, Streiche und Gags zu psychologischen Kampfmitteln umfunktionieren, musste ich ihm die Sinn- und Ausweglosigkeit seines Tuns klarmachen, ihn zwingen, sich in eine starke und ohnmächtige Aggression gegen mich hinein zu wühlen, musste ich in ihm den Wunsch nach Ruhe übermächtig werden lassen.
„Dieser Ziegenhals ist schon ein armer Hund“, sagte ich nachdenklich zu Cloward und seufzte ein wenig. „Er kann einem wirklich leidtun. Ich kenne ihn von früherer, saß mal bei mir im Seminar. Dann ist er irgendwie verschollen ... Jetzt will er wohl sein Studium wieder aufnehmen – aber es ist sinnlos, dass er es tut.“
„Wieso?“
„Ein Freund von mir ist Arzt, und Ziegenhals ist bei ihm in Behandlung. Na ja, und wie das so kommt – durch irgendeinen Zufall erfährt man’s dann ... Ziegenhals leidet an Leukämie. Nichts mehr zu machen ...“
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