Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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Marja Cailowna, ich würde Sie doch nicht verstehen.«

      Er wollte gehen. Da löschte sie das Licht.

      »Was tun Sie? Gleich zünden Sie das Licht an!« rief Sascha zornig.

      Aber Marja antwortete nicht.

      »Wo sind Sie? He, Marja Carlowna!«

      Alles blieb still. Er tastete nach bei Tür, fand sie aber nicht.

      Was tu' ich? dachte Sascha. Rufe ich, so kommt das Gesinde; und was müssen die Leute von ihrer Herrin denken, wenn sie mich im Dunkeln hier finden? Was gibt es für Weiber! Es ist nicht zu glauben.

      Er blieb stehen.

      »Marja,« rief er leise und bittend. »So hören Sie doch, Carlowna! Wo sind Sie?«

      Da fühlte er sich von ihren Armen umschlungen. Er wollte sich losreißen; aber sie glitt an ihm nieder und blieb auf den Knien vor ihm liegen.

      Was war das?

      Sie weinte.

      Er erschrak bis ins Herz hinein. Vor diesem erstickten Schluchzen schwand sein Zorn. Dem Jammer des Weibes zu seinen Füßen vermochte er nicht zu widerstehen.

      »So stehen Sie doch auf. Um Gottes willen – – Was tun Sie nur?«

      Er beugte sich zu ihr herab und wollte sie aufheben; aber als er ihren warmen, zuckenden Leib fühlte, ließ er sie los.

      »Sie sind unglücklich! Kann ich Ihnen helfen? So reden Sie doch!«

      Er wartete auf Antwort, angstvoll mit laut pochendem Herzen. Sie weinte stärker, es schüttelte sie wie im Krampf.

      Aber sie stammelte und lallte, so daß er anfänglich nichts verstand. Endlich sprach sie zu ihm: »Ich bin so schlecht, so verworfen. Ich bin nicht wert, deinen Fuß zu küssen. Aber stoße mich nicht fort. Erlöse mich! Reinige mich mit deiner reinen Seele! Ich will alles tun, was du verlangst; ich will so demütig sein, so gehorsam. Seit ich dich kenne, weiß ich erst, was ich gewesen bin. Sei barmherzig! Tritt mich mit Füßen, beschimpfe mich, nur laß dir gefallen, daß ich dich liebe, damit die brennenden Spuren auf meinen Lippen verlöschen.«

      »Marja Carlowna!«

      Seine Stimme zitterte.

      »Richte mich!«

      »Wir sollen nicht richten. Aber – welches ist deine Schuld?«

      Sie sagte es ihm. Zu seinen Füßen, schluchzend und weinend erzählte sie ihm ihre Geschichte, die Geschichte einer Verworfenen. Sascha hörte zu, das Herz zerrissen von Entsetzen und Mitleid. Dann sprach er ihr zu, leise, mit stockender Stimme, lange, lange; dann hob er sie auf und küßte sie auf die Stirn.

      Sie erbebte und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Der Morgen dämmerte, als sie ihm die Tür öffnete.

      »Arme Marja! Arme, arme Marja,« murmelte Sascha, die Treppe zu seinem Laboratorium hinauf steigend. »Wer hätte das gedacht. Aber wer kann sie verdammen?! Wladimir Wassilitsch hat recht: sie sind unsere Verderber, unsere Mörder.«

      Zweiundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Eine einzige Stunde »unter dem Volk« verlebt, hatte Wera manche Erfahrung, manche Enttäuschung gebracht. Es war nicht zu leugnen, daß das Volk von seinen zukünftigen Beglückern wenig wußte, gar nichts von ihnen wissen wollte. Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt. Das Mißtrauen, dem die beiden jungen Propagandistinnen überall begegneten, die Verachtung, die man ganz unverhohlen für sie zur Schau trug, erfüllten ihre Seele mit tiefem Kummer. So war es denn in Moskau geradeso wie in Eskowo, die Tausende hier waren gewiß nicht weniger unglücklich und vielleicht ebenso unwissend, wie die Hunderte dort; aber diese sowohl wie jene schienen ihren unwürdigen Zustand nicht einmal zu fühlen, befanden sich augenscheinlich ganz wohl dabei, wünschten durchaus keine Besserung. Und doch war Besserung dringend notwendig. Diejenigen, welche die Leiden des Volkes kannten und ihm helfen wollten, hatten die Verantwortung übernommen, wehe ihnen, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllten! Das Verderben eines ganzen Volkes würde über sie kommen.

      So durfte denn in den Bemühungen um das Volk nicht nachgelassen werden.

      Und Wera betrat mit ihrer Freundin die Wohnstätten des Volkes, sie sah sein moralisches und physisches Elend, seine Roheit und seine Laster; und sie drängte dem Volke voll tiefsten Mitleids die Hilfe der »Auferstandenen« auf. Wenn sie beschimpft und verhöhnt wurde, bat sie, sie anzuhören; wenn man sie fortjagte, versprach sie, wiederzukommen.

      Aber was bedeuteten ihre schwachen, matten Worte gegenüber der glühenden Begeisterung, mit der Natalia Arkadiewna beim Volke die Sache des Volkes führte. Mit tiefster Ergriffenheit sah Wera, wie die vom Tod Gezeichnete plötzlich wunderbar auflebte; mit Entzücken erlebte sie, wie das Wesen ihrer Freundin auf diesen und jenen – und gerade auf die Rohesten – eine gewisse Wirkung ausübte. Daraus schöpfte sie neue Hoffnung, für das Volk sowohl wie für sich selbst. Hätte sie nur besser zu dem Volke reden können, sie, die doch eine Tochter des Volkes war! Wie sprach dagegen Natalia Arkadiewna, die ihr ganzes Leben fern vom Volk, in Palästen zugebracht hatte! Mit ihrer schwachen Stimme predigte sie mächtig das Evangelium einer neuen Zeit: Gleichheit! Gleichheit! während Wera nur stammelte: Arbeit! Arbeit! nur flehte: Trinkt nicht den schändlichen Branntwein! Lernt etwas, tut etwas, seid nützlich! Einmal überfiel sie tödlicher Schrecken. Natalia Arkadiewna verkündete künftige Teilung allen Besitzes, und die Leute hörten auf sie – zum erstenmal!

      Wera nahm sich vor, mit Natalia Arkadiewna darüber zu reden, sie zu bitten, nicht solche Dinge zu sagen. Sie könnten ja doch nicht in Erfüllung gehen. Denn am Tage nach der Verteilung schon würde der Besitz wieder ungleich sein; der eine mehr haben als der andere; es müßte also immer wieder von neuem geteilt werden.

      Manche wollten ihre Flugblätter gar nicht nehmen, andere nahmen sie und zerrissen sie vor ihren Augen, oder drohten, die verbotenen Schriften der Polizei zu bringen. Schließlich hatten sie aber doch die letzten fortgegeben.

      »Komm,« sagte Natalia Arkadiewna, »jetzt fahren wir nach Dawidkowo zu Grischa Michailitsch Potechin.«

      »Zu Grischa Michailitsch Potechin. Wer ist das?«

      »Ein Prachtmensch, du wirst ihn kennen lernen.«

      »Was sollen wir bei ihm?«

      »Für die Sache Propaganda machen.«

      »Aber es ist schon spät.«

      »Wir übernachten dort.«

      »Bei ihm?«

      »Bei seiner Mutter.«

      »Erwartet sie uns?«

      »Ich bin sicher, daß sie uns einen Wagen geschickt hat, der gewiß längst am Dorogomilow-Schlag hält. Bis Dawidkowo sind es zehn Werst. Grischa Michailitsch ist nämlich Landwirt.«

      »Wir fahren auf das Land hinaus?«

      »Das freut dich?«

      »Nun ja.«

      »Und du bist noch nicht zwei Tage in Moskau.«

      »Gewiß viel länger.«

      »Rechne doch nach.«

      »Wahrhaftig. Noch nicht volle zwei Tage. Wie ist das möglich?«

      Eskowo schien ihr so in die Vergangenheit entrückt, daß ihr beinahe angst wurde. Wie konnte dem Menschen so gänzlich entschwinden, was ein halbes Leben hindurch seine Welt gewesen war? Also ließ sich nichts fest und dauernd besitzen. Nicht einmal die Erinnerung.

      Es war so, wie Natalia gesagt hatte: am Dorogomilow-Schlag hielt der Wagen, eine zierliche Kibitka mit munteren Steppenpferden bespannt, von einem jungen, munteren Kutscher gelenkt. Er zog mit ungeschickter Höflichkeit seine Mütze, wobei er sich vor den beiden Mädchen wie vor einer Exzellenz bis