Drei Frauen im Schnee. Blanca Imboden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Blanca Imboden
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037635445
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Zimmerpflanzen diskutiert?«

      Es ist nur eine rhetorische Frage, denn mein Mann liest gerade die Zeitung und möchte sicher höchstens durch einen Weltuntergang gestört werden. Der kommt allerdings erst in 21 Tagen …

      »Nur das Übliche«, sage ich und streiche mir Honig aufs Brötchen. Aber das Flämmchen des Widerstandes wurde gestern gestärkt. Ich weiß genau, was ich zu tun habe.

      Onkel Leo ist ein unmöglicher Mensch, unsympathisch und widerlich. Seine rassistischen und sexistischen Sprüche haben mich schon immer geärgert. Die Kinder haben recht: Nicht jeder Mensch verdient automatisch unsere Zuneigung und unseren Respekt. Die Zahl der Lebensjahre macht einen Menschen nicht unbedingt besser.

      Ich fühle mich nicht einmal mit ihm verwandt. Um es genau zu nehmen: Er ist Pauls Onkel, nicht meiner. Zudem angeheiratet: Leo hat die Schwester von Irene geheiratet. Diese Tante ist vor zehn Jahren verstorben. Nach seiner Pensionierung hat Leo sich vor allem in Asien aufgehalten. Ich will gar nicht wissen, was er da getrieben hat. Als er gebrechlich wurde, kam er wieder heim. Jetzt ist er seit drei Jahren im Altersheim. Ich habe ihm zwar beim Umzug geholfen, besucht habe ich ihn dort jedoch nie. Er kam ja ab und zu bei Irene vorbei, das hat mir immer völlig gereicht. Und eben die gemeinsamen Weihnachtsfeste …

      Aber das soll sich jetzt ändern.

      Ich fahre mit dem Bus nach Steinen und bereite in Gedanken meine Rede vor. Ja, ich werde Leo im Altersheim besuchen und ihm klarmachen, dass ich ihn an diesem Weihnachtsfest nicht sehen möchte. Eine heikle Mission. Gibt es höfliche Worte, um zu sagen: »Bleib gefälligst meinen Töchtern fern!«?

      Das Heim am Dorfrand von Steinen steht sehr abgelegen auf einer Wiese. Die Zimmer bieten einen schönen Blick auf den Lauerzersee, das hat Leo immer gefreut. Mir selber kommt es ein wenig so vor, als hätte man die alten Leute abgeschoben, an den äußersten Rand des Dorfes.

      Ich gehe auf das Haus zu und werde zunehmend nervös. Tue ich das Richtige? Finde ich die passenden Worte? Wird es eine schlimme Szene geben?

      Ein eisiger Wind faucht mich an. Ich ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht. Jetzt hält mich nichts mehr auf. Die Löwenmutter bläst zum Kampf.

      Ich melde mich beim Eingang. Wer weiß, ob Onkel Leo noch im gleichen Zimmer wohnt.

      Tut er. Gut, das werde ich finden. Dritter Stock. Zimmer sieben. Fünf, sechs, sieben … Da ist es.

      Mein Herz klopft. Ich stehe einen Moment vor der Zimmertür und höre drinnen einen Mann herumschreien.

      Mutig klopfe ich trotzdem an die Tür, und eine dünne Stimme ruft mich herein. Was ich sehe, trifft mich unerwartet.

      Ist das Leo?

      Ich bin schockiert. In einem Gitterbett liegt ein mageres Männchen mit großen, wachen Augen. Die wenigen Haare stehen wild von seinem Kopf ab. Ich habe mich noch nicht von Leos Anblick erholt, da zischt etwas an mir vorbei.

      Peng!

      Er hat mit einer Pillendose nach mir geworfen! Sie prallt an die Wand neben der Tür, und die gelben Tabletten rollen über den Boden. Gut, dass er nicht zu treffen weiß. Dabei habe ich noch keinen Pieps gesagt.

      Spinnt der? Ich bin fassungslos.

      Aber es kommt noch schlimmer, Leo fängt an zu keifen: »Schwester! Da ist schon wieder eine Frau! Ich kenne sie nicht. Sie soll gehen. Ich will keinen Besuch. Schwester!«

      Ich stehe da, sprachlos, bewegungslos.

      Was habe ich erwartet? Dass Leo in seinem Lieblingssessel sitzt, mit hochgelegten Beinen, Zeitung liest und Marschmusik hört? Schöne, kuschelige Altersheimidylle?

      Ja. Eigentlich genau das.

      Aber ich stehe hier im Zimmer eines kranken, verwirrten Mannes. Ich werde ihm auf keinen Fall sagen können, was ich wollte. Er würde es nicht verstehen.

      Der Mann, der bisher auf Leos Nachbarbett gelegen hat, steht auf, humpelt auf mich zu, nimmt mich am Arm und führt mich in den Gang hinaus.

      Leo schimpft und flucht uns hinterher: »Ja, ja, geht nur alle! Ich brauche keinen, ich will nur meine Ruhe!«

      Leos Zimmernachbar scheint ganz munter zu sein. Der hat sich ja eine nette Gesellschaft angelacht auf seine letzten Tage.

      »Ich heiße Viktor«, sagt er und reicht mir höflich die Hand.

      Auch ich nenne meinen Namen und lächle, wohl etwas gequält. »Er ist nicht immer so«, beruhigt mich der alte Mann. »Manchmal liegt er auch einfach da und starrt an die Decke. Und dann schläft er wieder stundenlang.«

      Ob er denn manchmal auch normal ansprechbar sei, frage ich.

      »Selten. Ganz selten«, sagt Viktor und schüttelt traurig den Kopf. Besuch bekomme er kaum noch. Irene schaue einmal im Monat kurz vorbei. Sie werde aber auch oft beschimpft und mit Gegenständen beworfen.

      Oh. Das trifft mich jetzt doch irgendwie.

      »Wie halten Sie das bloß aus?«, wage ich zu fragen.

      Viktor zuckt mit den Achseln.

      »Mir geht es gut. Ich kann das Zimmer verlassen.«

      Ja, das wird er wohl öfter tun müssen.

      Schlimm.

      Ich bin mit viel Groll hierhergekommen. Der ist jetzt in sich zusammengefallen. Er tut mir leid, dieser magere Leo, der mit der Welt nicht mehr zurechtkommt. Und Viktor erst, er muss ihn Tag für Tag ertragen. Was für ein Leben!

      »Sonja, bist du das?«

      Ich drehe mich um und sehe eine Krankenschwester am Ende des Ganges. Wer …? Ich gucke genauer hin, und dann erkenne ich sie. Was für eine erfreuliche Überraschung: Ich treffe hier eine ehemalige Schulkameradin!

      »Monika? Meine Güte, wie ewig ist das denn her! Schön, dich zu sehen.«

      Wir begrüßen uns herzlich, und nachdem ich zunächst wie perplex war, kommen wir ins Gespräch. Monika leitet die Station, erzählt sie mir. Ich hatte sie aus den Augen verloren, als sie für viele Jahre in einem afrikanischen Hilfswerk tätig war. Ich mustere sie unauffällig. Sie hat schon ein paar graue Haare bekommen und ein paar Kilos mehr auf den Hüften, aber davon abgesehen lacht sie immer noch so fröhlich wie früher in die Welt. Als ich ihr sage, dass Leo mein Onkel ist, wundert sie sich, und ich komme mir schlecht vor. Schließlich habe ich ihn nie besucht.

      Monika nimmt das gelassen.

      »Leo ist kein einfacher Patient«, vertraut sie mir an, »eher eine Herausforderung für alle Pflegekräfte.« Ein gutes Wort habe noch keine von ihm gehört, gibt sie sofort zu. Trotzdem bekomme er natürlich eine gute Pflege, das sei nun mal ihr Job. Sie meint im Übrigen, er könne noch Jahre so weiterleben. Er sei bloß dement und schwach, ansonsten nicht wirklich krank.

      »Manchmal ist er etwas aggressiv. Dann wirft er mit Gegenständen. Aber er trifft selten«, lacht sie.

      Ich bewundere sie für diesen harten Job. Eine ehrenwerte, sinnvolle Arbeit.

      »Es ist manchmal schwer. Man hat immer mit dem Sterben zu tun. Und mit Leiden, Trauer, Schmerz. Aber wir können dafür täglich viel Gutes tun.«

      Es bilden sich ein paar tiefe Falten in ihrem Gesicht, während sie das sagt. Dies dauert indessen nur einen flüchtigen Moment lang, und schon lacht sie wieder.

      Monika wirkt stark und gefestigt. Sie sieht aus, als hätte sie diesem ganzen Elend sehr viel entgegenzusetzen. Ihre Frohnatur scheint nicht wirklich gelitten zu haben. Als sie schließlich wissen will, warum ich denn nun plötzlich hier aufgetaucht sei, vertraue ich mich ihr an. Nein, sie lacht mich nicht aus. Aber sie lacht.

      »Diesen Weg hättest du dir sparen können. Er kann das Haus an Weihnachten sicher nicht verlassen.«

      Monika muss weiter. Die Zeit sei in der Pflege ein kostbares Gut.

      Aber es habe ihr gutgetan, mit mir zu reden.

      Und mir