In diesen weniger geld- als abgabenreichen Zeiten mag es vielleicht Nießen empfehlen, wenn ich drucken lasse, dass er Geld hatte und darnach nichts fragte, und dass er für seinen Kopf und für seine Köpfe ein Herz suchte, das durch Liebe und Wert ihn für alle jene bezahlte und belohnte.
Mit dem ersten Blick hatte er den ganzen Doktor ausgegründet, der mit schlauen grauen Blitz-Augen vor ihn trat, den Säbelschnäbler streichelnd; Nieß legte – nach einer kurzen Anzeige seiner Person und seines Gesuchs – ein Röllchen Gold auf den Nähtisch mit dem Schwure: »Nur unter dieser Bedingung aller Auslagen nehm‘ er das Glück an, einem der größten Zergliederer gegenüber zu sein.« – »Fiat! Es gefällt mir ganz, dass Sie rückwärts fahren, ohne zu vomieren; dazu bin ich verdorben durch die Jahre.« Der Doktor fügte noch bei, dass er sich freue, mit dem Freunde eines berühmten Dichters zu fahren, da er von jeher Dichter fleißig gelesen, obwohl mehr für physiologische und anatomische Zwecke und oft fast bloß zum Spaße über sie. »Es soll mir überhaupt lieb sein«, fuhr er fort, »wenn wir uns gegenseitig fassen und wie Salze einander neutralisieren. Leider hab‘ ich das Unglück, dass ich, wenn ich im Wagen oder sonst jemand etwas sogenanntes Unangenehmes sage, für satirisch verschrien werde, als ob man nicht jedem ohne alle Satire das ins Gesicht sagen könnte, was er aus Dummheit ist. Indes gefällt Ihnen der Vater nicht, so sitzt doch die Tochter da, nämlich meine, die nach keinem Manne fragt, nicht einmal nach dem Vater; misslingt der Winterbau, sagen die Wetterkundigen, so gerät der Sommerbau. Ich fands oft.«
Dem Dichter Nieß gefiel dieses akademische Petrefakt unendlich, und er wünschte nur, der Mann trieb‘ es noch ärger, damit er ihn gar studieren und vermauern könnte in ein Possenspiel als komische Maske und Karyatide. »Vielleicht ist auch die Tochter zu verbrauchen in einem Trauerspiele«, dacht‘ er, als Theoda eintrat, die von nachweinender Liebe und von Jugendfrische glänzte und die durch die frohe Nachricht seiner Mitfahrt neue Strahlen bekam. Jetzo wollte er sich in ein interessantes Gespräch mit ihr verwickeln; aber der Doktor, dem die Aussicht auf einen Abendgast nicht heiter vorkam, schnitt es ab durch den Befehl, sie solle sein Kästchen mit Pockengift, Fleischbrühtafeln und Zergliederungzeuge packen. »Wir brechen mit dem Tage auf«, sagte er, »und ich lege mich nach wenigen Stunden nieder. Sic vale!«
Der Menschenkenner Nieß entfernte sich mit dem eiligsten Gehorsam; er hatte sogleich heraus, dass er für den Doktor keine Gesellschaft sei – leichter dieser für ihn. Allerdings äußerte Katzenberger gern einige Grobheit gegen Gäste, bei denen nichts Gelehrtes zu holen war, und er gab sogar den Tisch lieber her als die Zeit. Es war für jeden angenehm zu sehen, was er bei einem Fremden, der, weder besonders ausgezeichnet durch Gelehrsamkeit noch durch Krankheit, gar nicht abgehen wollte, für Seitensprünge machte, um ihn zum Lebewohl und Abscheiden zu bringen; wie er die Uhr aufzog, in Schweigen einsank oder in ein Horchen nach einem nahen lautlosen Zimmer, oder wie er die unschuldigste Bewegung des Fremden auf dem Kanapee sogleich zu einem Vorläufer des Aufbruchs verdrehte und scheidend selber in die Höhe sprang, mit der Frage, warum er denn so eile. Beide Meckel hingegen, die Anatomen, Vater und Sohn zugleich, hätte der Doktor tagelang mit Lust bewirtet.
FORTSETZUNG DER ABREISE DURCH FORTSETZUNG DES ABSCHIEDS
Am Morgen tat oder war Theoda in der weiblichen Weltgeschichte nicht nur das achte Wunder der Welt – sie war nämlich so früh fertig als die Männer –, sondern auch das neunte, sie war noch eher fertig. Gleichwohl musste man auf sie warten – wie auf jede. Es war ihr nämlich die ganze Nacht vorgekommen, dass sie gestern sich durch ihren Freudenungestüm und ihre reisetrunkne Eilfertigkeit bei einem Abschiede von einer Freundin vollends versündigt, deren helle ungetrübte Besonnenheit bisher die Leiterin ihres Brauseherzens gewesen – so wie wieder die Leiterin des zu überwölkten Gattenkopfs – und welche ihre versteckte Wärme immer bloß in ein kaltes Lichtgeben eingekleidet; – und von dieser Freundin so nahe an der Klippe des weiblichen Lebens eilig und freudig geschieden zu sein – dieser Gedanke trieb Theoda gewaltsam noch einmal in der Morgendämmerung zu ihr. Sie fand das Haus offen (Mehlhorn war früh verreiset), und sie kam ungehindert in Bonas Schlafgemach. Blass wie eine von der Nacht geschlossene Lilie ruhte ihr stilles Gesicht im altväterischen Stuhle umgesunken angelehnt. Theoda küsste eine Locke – dann leise die Stirn – dann, als sie zu schnarchen anfing, gar den Mund.
Aber plötzlich hob die Verstellte die Arme auf und umschlang die Freundin: »Bist du denn schon wieder zurück, Liebe« – sagte wie traumtrunken Bona –, »und bloß wohl, weil du deinen Dichter nicht da gefunden?«
»O, spotte viel stärker über die Sünderin, tue mir recht innig weh, denn ich verdiene es wohl von gestern her!«, antwortete sie und nannte ihr alles, was ihr feuriges Herz drückte. Bona legte die Wange an ihre und konnte, vom vorfrühen Aufstehen ohnehin sehr aufgelöset, nichts sagen, bis Theoda heftig sagte: »Schilt oder vergib!«, so dass jener die heißen Tränen aus den Augen schossen und nun beide sich in einer Entzückung verstanden. »O jetzo möchte ich«, sagte Theoda, »mein Blut, wie dieses Morgenrot, vertropfen lassen für dich. Ach, ich bin eigentlich so sanft; warum bin ich denn so wild, Bona?« – »Gegen mich bist du gerade recht«, erwiderte sie; »nur einmal das beste Wesen kann dein wildes verdienen. Bloß gegen andere sei anders!« – »Ich vergesse«, sagte Theoda, »bloß immer alles, was ich sagen will oder leider gesagt habe; nur ein Ding wie ich konnte es gestern zu sagen vergessen, dass ich mich am innigsten nach der erleuchteten Höhle in Maulbronn wie nach dem Sternenhimmel meiner Kindheit sehne, meiner guten Mutter halber.« Ihr war nämlich ein unauslöschliches Bild von der Stunde geblieben, wo ihre Mutter sie als Kind in einer großen, mit Lampen erhellten Zauberhöhle des Orts – ähnlich der Höhle im Bade Liebenstein – umhergetragen hatte.
Beide waren nun ein ruhiges Herz. Bona hieß sie zum Vater eilen – wiederholte ihren Rat der Vorsicht mit aller ihr möglichen Ruhe (ist sie fort, dachte sie, so kann ich gerührt sein, wie ich will), vergaß sich aber selber, als Theoda weinend mit gesenktem Kopfe langsam von ihr ging, dass sie nachrief: »Mein Herz, ich kann nur nicht aufstehen vor besonderer Mattigkeit und dich begleiten; aber kehre ja deshalb nicht wieder um zu mir!« Aber sie war schon umgekehrt und nahm, obwohl stumm, den dritten Abschiedkuss; und so kam sie mit der Augenröte des Abschiedes und mit der Wangen- und Morgenröte des Tags laufend bei den Abreisenden an.
FORTGESETZTE FORTSETZUNG DER ABREISE
Da der Doktor neben dem Edelmanne auf ihre Ankunft wartete: so ließ er noch ein Werk der Liebe durch Flex ausüben, seinen Bedienten. Er griff nämlich unter seine Weste hinein und zog einen mit Branntwein getränkten Pfefferkuchen hervor, den er bisher als ein Magen-Schild zum bessern Verdauen auf der Herzgrube getragen: »Flex«, sagte er, »hier bringe mein Stärkmittel drüben den untern Gerberskindern; sie sollen sich aber redlich darein teilen.« – Der Edelmann stutzte.
»Meiner Tochter, Herr von Nieß«, sagte er, »dürfen