»Sie kennen mich noch, Herr«, sagte Clemency, zitternd vor Erregung. »Ich sah es soeben! Sie kennen mich noch von der Nacht damals im Garten. Ich war bei ihr!«
»Ja, ich weiß es«, entgegnete er.
»Ja, Herr«, versetzte Clemency. »Ja, bestimmt. Das ist mein Mann, Herr. Ben, lieber Ben, lauf zu Miß Grace – laufe zu Mr. Alfred – lauf zu irgend jemandem, Ben! Hole irgend jemanden herbei, sogleich!«
»Bleiben Sie!« sagte Michael Warden und trat gelassen zwischen die Tür und Britain. »Was wollen Sie anfangen?«
»Geben Sie ihnen Nachricht, daß Sie hier sind, Sir«, bat Clemency und schlug die Hände zusammen, ganz außer sich vor Verwirrung. »Geben Sie ihnen Nachricht, daß sie aus Ihrem Munde mehr von ihr erfahren können; daß sie ihnen nicht ganz verloren ist, sondern daß sie wieder heimkommen wird, um ihren Vater und ihre Schwester – und auch ihre alte Dienerin, mich«, sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust, »mit dem Anblick ihres lieben Gesichts zu trösten. Eil’, Ben, eil’!« Und noch immer drängte sie ihn gegen die Tür, und noch immer stand Mr. Warden davor und versperrte ihm den Ausgang, nicht mit zorniger, sondern mit betrübter Miene.
»Oder vielleicht«, sagte Clemency und hielt sich an Mr. Wardens Mantel, »vielleicht ist sie jetzt hier; vielleicht ist sie ganz nahe. Ja, ich merke es Ihnen an, sie muß hier sein. Bitte, Herr, lassen Sie mich zu ihr. Ich hütete sie, als sie noch ein kleines Kind war. Ich sah sie aufwachsen als Freude dieses Ortes. Ich kannte sie, als sie Mr. Alfreds Braut war. Ich versuchte sie zurückzuhalten, als Sie sie hinweglockten. Ich kenne ihr Vaterhaus, wie es war, als sie es noch beseelte, und wie es sich geändert hat, seitdem sie entfloh. Bitte, Herr, lassen Sie mich zu ihr!«
Er sah sie mitleidig und erstaunt an, machte aber keine Geste der Einwilligung.
»Ich glaube nicht, daß sie wissen kann«, erklärte Clemency, »wie aufrichtig sie ihr vergeben haben; wie sehr sie sie lieben; welche Freude es ihnen bereiten würde, sie noch einmal zu sehen. Sie scheut sich vielleicht, nach Hause heimzukehren. Ich kann ihr vielleicht Mut zusprechen, wenn sie mich erblickt. Nur sagen Sie mir, haben Sie sie mitgebracht?«
»Nein«, sagte er kopfschüttelnd.
Diese Antwort, sein Verhalten, sein Traueranzug, seine stille Rückkehr, die angekündigte Absicht, ins Ausland zu ziehen, offenbarten alles: Marion war tot.
Er konnte ihr nichts entgegnen, ja, sie war tot! Clemency setzte sich nieder, legte das Gesicht auf den Tisch und weinte bittere Tränen.
In diesem Augenblick stürzte ein alter, grauhaariger Herr außer Atem ins Zimmer und keuchte so sehr, daß man an seiner Stimme kaum Mr. Snitchey erraten hätte.
»Mein Gott, Mr. Warden!« rief der Advokat und zog ihn beiseite, »was für ein Wind«, er war so erschöpft, daß er pausieren mußte und erst nach einer Weile ganz schwach fortfuhr, »hat Sie hierher geführt?«
»Ein schlimmer, fürchte ich«, antwortete er. »Wenn Sie hätten hören können, was hier eben geschah – wie ich Unmögliches tun soll – wie ich Betrübnis und Herzeleid mitbringe!«
»Ich kann alles begreifen. Aber warum sind Sie gerade hierher gekommen?« sagte Snitchey.
»Weshalb sollte ich nicht! Wie konnte ich wissen, wer hier Wirt ist? Als ich meinen Diener zu Ihnen schickte, ging ich hier herein, weil mir das Haus neu war. Ich hatte ein begreifliches Interesse für alles Neue und Alte in dieser Umgebung von einst. Außerdem aber wollte ich vor der Stadt erst einmal mit Ihnen zusammentreffen. Ich wollte wissen, was die Leute über mich reden. Ich sehe es an Ihrer Haltung, daß Sie es mir sagen können. Wäre Ihre verwünschte Vorsicht nicht gewesen, dann hätte ich längst alles erfahren können.«
»Unsere Vorsicht!« rief der Advokat aus. »Im Namen meiner selbst und Craggs’ – selig«, hier blickte er auf den Flor an seinem Hut und schüttelte den Kopf, »zu Ihnen gesprochen, Mr. Warden, wie können Sie uns klugermaßen eine Schuld zuschreiben? Wir einigten uns, diese Angelegenheit nicht wieder zu berühren, da es keine Sache war, in die sich so würdige und gesetzte Männer wie wir (ich notierte mir Ihre damaligen Bemerkungen) mischen dürften. Unsere Vorsicht! während Mr. Craggs in sein ehrenwertes Grab stieg in dem Glauben –«
»Ich hatte feierlich versprochen, zu schweigen, bis ich zurückkehren würde, wie lange dies auch immer dauern möchte«, unterbrach ihn Mr. Warden; »und ich habe das Versprechen gehalten.«
»Gut, Herr, und ich wiederhole es, wir waren gleichfalls zum Schweigen verpflichtet. Dazu zwang uns unsere Verpflichtung gegen uns selbst und gegen verschiedene Klienten, unter denen auch Sie waren. Es war nicht unsere Sache, Sie über eine so persönliche Angelegenheit auszuforschen; ich hatte meine Befürchtung, Herr; aber erst seit sechs Monaten habe ich die Wahrheit erfahren.«
»Durch wen?« fragte sein Klient.
»Durch Doktor Jeddler selbst, Herr, der mir freiwillig sein Vertrauen schenkte. Er, und nur er, hat um die ganze Wahrheit seit mehreren Jahren gewußt.«
»Und Sie wissen sie auch?« sagte sein Klient.
»Ja, Herr!« erwiderte Snitchey, »und ich habe auch allen Anlaß, anzunehmen, daß ihre Schwester sie morgen abend hören wird. Unterdessen werden Sie mir hoffentlich die Ehre erweisen, Gast in meinem Hause zu sein, da man Sie bei den Ihren nicht erwartet hat. Doch um etwaigen weitern Verlegenheiten vorzubeugen, für den Fall, daß man Sie erkennen sollte – ist es besser, wir essen hier und gehen abends nach der Stadt. Man speist hier recht gut, Mr. Warden; das Haus ist übrigens das Ihre. Ich und Craggs (selig) aßen hier oft ein Kotelett und fanden es immer delikat. Mr. Craggs, mein Herr«, sagte Snitchey und schloß die Augen fast für einen Augenblick, um sie dann wieder zu öffnen, »wurde zu früh aus dem Buche der Lebendigen gelöscht.«
»Der Himmel vergebe es mir, daß ich Ihnen nicht mein Beileid sagte«, versetzte Michael Warden und fuhr mit der Hand über die Stirn; »aber mir ist es, als ob ich träumte. Es ist mir, als wäre ich nicht ganz bei Bewußtsein. Mr. Craggs, – ja – ich bedauere es sehr, daß wir Mr. Craggs verloren haben.« Aber er blickte, indem er so sprach, auf Clemency und schien mit Ben, der sie tröstete, Sympathie zu fühlen.
»Mr. Craggs, Sir«, entgegnete Snitchey, »erfuhr, was ich zu meinem Leidwesen bekennen muß, daß das Leben nicht zu leicht zu behalten war, wie es ihm seine Theorie sagte, sonst würde er noch unter uns verweilen. Es ist ein herber Verlust für mich. Mr. Craggs war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, mein rechtes Auge. Ich komme mir ohne ihn wie ein Lahmer vor. Er vermachte seinen Geschäftsanteil der Mrs. Craggs, den Testamentsvollstreckern, Sachwaltern und Kuratoren. Sein Name steht noch heute im Schild der Firma. Manchmal versuche ich wie ein Kind, mich in den Glauben einzuwiegen, als lebe er noch. Ich sage immer wieder: Snitchey allein und Craggs – selig, mein Herr, – selig«, sagte der gefühlvolle Anwalt und zog ein Taschentuch hervor.
Michael Warden, der Clemency noch immer ansah, wandte sich zu Snitchey, als dieser aufhörte zu reden, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ach, die arme Frau!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf, »Ja. Sie hing immer sehr an Marion. Schöne Marion! Arme Marion! Aber Kopf hoch, liebe Frau – Sie sind ja jetzt verheiratet, Clemency.«
Clemency seufzte nur und schüttelte das Haupt.
»Nur Geduld bis morgen«, sagte der Advokat voll Güte.
»Das Morgen macht die Toten nicht lebendig, Herr«, sagte Clemency schluchzend.
»Dies freilich nicht, sonst würde es auch Mr. Craggs, selig, wieder lebendig machen«, erwiderte der Anwalt. »Jedoch Trost kann es bringen. Geduld bis morgen.«
Clemency schüttelte die hingestreckte Hand und versprach sich zu beruhigen. Britain aber, der beim Anblick seiner kummervollen Gattin (es war gerade, als lasse das ganze Geschäft den Kopf hängen) ganz niedergeschlagen worden war, erklärte, so sei es richtig. Mr. Snitchey und Michael Warden