Die Scharia. Christine Schirrmacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Schirrmacher
Издательство: Bookwire
Серия: Kurz und bündig
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783775172110
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Einzeltexten zu zahlreichen Themen, die wiederum untereinander Unterschiede, ja sogar Widersprüche in rechtlichen Aussagen erkennen lassen.

      In der Überlieferung finden sich zahlreiche Ausführungsbestimmungen zu den manchmal knappen koranischen Anweisungen wie etwa zum Ehe- und Familienrecht. Es ist die Überlieferung, die recht unmissverständlich und mehrfach berichtet, dass Muhammad Abtrünnige vom Islam zum Tod verurteilte, während der Koran selbst keinen derartigen Bericht enthält. Vor allem aufgrund der Überlieferungstexte ist die Forderung der Scharia nach der Todesstrafe für Abgefallene (Konvertiten) unter Theologen aller vier sunnitischen sowie der schiitischen Rechtsschule weitestgehend unstrittig – wobei in der Praxis Apostasiefälle nur höchst selten vor Gericht verhandelt werden. Das ändert aber nichts an der prinzipiellen rechtlichen Gültigkeit und Akzeptanz dieser Schariabestimmung.

      Wer den rechtlichen Regelungen der Überlieferung nicht Folge leistet, begeht sowohl eine Sünde als auch eine Straftat (z. B. indem er zwei Schwestern heiratet und damit eine nach der Scharia verbotene Form der Eheschließung vollzieht). Auch wenn der Korantext festlegt, dass erst die gleichlautenden Zeugenaussagen zweier Frauen die Aussage eines Mannes aufwiegen (Sure 2,282), dann mögen das viele Muslime heute als ungerecht und nicht zeitbedingt beurteilen, aber trotzdem fand dieses Prinzip in den Gesetzeskodifikationen einiger islamischer Länder – wie z. B. im Strafgesetzbuch des Iran – seinen Niederschlag. Obwohl deshalb noch lange nicht »die Scharia« als ganze in einem solchen Land zur Anwendung kommt, ist unübersehbar, dass die in den religiösen Quellentexten verankerten Bestimmungen für die heutige Gesetzgebung einzelner Länder nicht ohne Bedeutung sind.

      Wenn also der Koran nach überwiegender Auffassung die Polygamie ebenso gestattet (Sure 4,3) wie die Weisungsbefugnis des Ehemanns über seine Frau – u. U. bis zu ihrer »maßvollen« Züchtigung (4,34) –, dann sind dies nicht vor allem kulturbedingte und heute zu revidierende Auffassungen des 7. Jahrhunderts n. Chr., sondern sollten nach Auffassung längst nicht aller, aber doch heute einer insgesamt zunehmenden Anzahl von Muslimen als göttliche Gebote ihren Niederschlag in der heutigen Gesetzgebung muslimischer Länder finden. Denn, so lautet eine in der jüngeren Vergangenheit häufig vorgebrachte Forderung, nicht die Scharia müsse modernisiert, sondern die Moderne an der Scharia ausgerichtet werden.13

      Frauen- wie Menschenrechtsorganisationen in islamischen Ländern protestieren vehement gegen solcherart ›zeitlos‹, historisch unreflektierte Generalanwendungen eines (Koran-)Textes aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. Die Problematik besteht jedoch darin, dass bei einer insgesamt fehlenden historischkritischen Aufarbeitung der islamischen Geschichte und Theologie der Ruf nach einer modernen Auslegung schnell in den Bereich des Vorwurfs der »Ketzerei« oder des »Unglaubens« gerät und die Reformer in den Augen vieler Traditionalisten als »unislamisch« diskreditiert.

      Koran und Überlieferung werden erst durch die Auslegungen muslimischer Theologen konkret fass- und anwendbar. Dieser Auslegung ist jedoch hinsichtlich der Meinungsvielfalt nicht einfach Tor und Tür geöffnet. In erster Linie gelten hier die Rechtskompendien maßgeblicher Theologen und Juristen aus frühislamischer Zeit als wegweisend bis in die Moderne.

      Bei Muhammads Tod im Jahr 632 n. Chr. lagen nach übereinstimmender muslimischer Sichtweise weder der Korantext noch die Überlieferungstexte vollständig vor, sondern allenfalls Bruchstücke. Die »Gewohnheit« (arab. sunna) des Propheten, die später in die Überlieferungstexte (hadithe) einfloss, muss allerdings in den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod ein wichtiger Faktor für die praktische Organisation der muslimischen Gemeinschaft gewesen sein; vermutlich wurden die meisten Texte des Korans und der Berichte über Muhammad zunächst mündlich überliefert. Und auch die Mehrzahl der Korantexte soll von den Gewährsmännern der Gemeinde Muhammads mündlich bewahrt und rezitiert worden sein. Schriftliche Rechtstexte mit »islamischen« rechtlichen Regelungen existierten zur Frühzeit des Islam kaum in schriftlicher Form, sondern waren durch mündliche Tradierung allenfalls Teil des Gewohnheitsrechts geworden.

      Dem Koran entnehmen wir, dass das altarabische Gewohnheitsrecht z. T. von Muhammad abgeschafft wurde: So verwirft Muhammad die offensichtlich aus vorislamischer Zeit stammende Praxis, neugeborene Mädchen aus Angst vor Verarmung zu vergraben (Sure 17,31), teilweise modifizierte Muhammad alte Bestimmungen. So wurden z. B. die Polygamie oder das Recht auf Blutrache begrenzt, aber nicht völlig abgeschafft (Sure 4,3; 2,178-179).

      Schon in den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod dehnte sich der Islam bis nach Spanien und Zentralasien aus. Dort musste nicht nur eine funktionierende Verwaltung, sondern auch ein islamisches Rechtssystem möglichst rasch etabliert werden. In den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod gab es das mit Sicherheit noch nicht. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts n. Chr. – also einem Zeitraum von rund 150 Jahren nach Muhammads Tod – gab es noch keine eigentliche islamische Rechtslehre, daher kann in der islamischen Frühzeit noch »nicht von einem einheitlichen sunnitischen Recht« gesprochen werden.14 Erst bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts war das islamische Recht zu einem Regelwerk geworden, in dem auch definiert war, wie man neue Fälle nach allgemein gültigen Prinzipien lösen konnte.15

      Dadurch, dass die islamischen Eroberungen schon zur Zeit der ersten vier Kalifen 632–661 n. Chr. rasch voranschritten, entstand schon sehr bald die Notwendigkeit, in den neu eroberten islamischen Gebieten ein Rechtssystem zu etablieren und viele konkrete Fragen v. a. des Ehe- und Familienrechts zu lösen. In den ersten Jahrzehnten standen dafür lediglich Korantexte und das angestammte Gewohnheitsrecht zur Verfügung. Leider ermöglicht es uns die spärliche Quellenlage nicht, eine lückenlose Geschichte der islamischen Rechtsentwicklung zu zeichnen. Aber es ist zu schlussfolgern, dass aus den Kreisen der ersten Schriftgelehrten der ersten Jahrzehnte, den ›ulama‹, juristische Diskussionszirkel um Gelehrte (arab. fuqaha‘) hervorgingen, »Gruppen von religiös orientierten Männern, die einige Gerichtsurteile von Gouverneuren und Richtern kritisierten«16. Dies geschah vor allem in Medina und Kufa17, in Mekka, Damaskus und Basra. Dort wurde die Erörterung praktischer Rechtsfragen praktiziert, sodass sich eine islamische Rechtswissenschaft (arab. fiqh) zu entwickeln begann. Daraus entstanden die »Rechtsschulen« (Auslegungstraditionen), von denen sich im sunnitischen Islam bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. vier Schulen etablierten, die der Hanafiten, Hanbaliten, Schafiiten und Malikiten. Es muss darüber hinaus weitere Schulen gegeben haben, die jedoch nicht dauerhaft Bestand hatten.

      Die drängendste Frage, die diese Rechtsgelehrten zu beantworten hatten, war die Frage, wie rechtliche Fragen entschieden werden konnten, für die sich kein Vorbild bzw. keine Handlungsanweisung im Koran und der Überlieferung fand. Dass der Koran und die Überlieferung als erste Quellen der Rechtsfindung zu betrachten waren, daran bestand unter den vier genannten sunnitischen Rechtsschulen kein Zweifel. Aber seit ash-Shafi‘i (gest. 820 n. Chr.) galt, dass auch die Übereinstimmung der Gelehrten in einer bestimmten Frage (arab. ijma‘) und der Analogieschluss (arab. qiyas) als Quellen der Rechtsfindung anerkannt wurden.

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