Die Scharia. Christine Schirrmacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Schirrmacher
Издательство: Bookwire
Серия: Kurz und bündig
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783775172110
Скачать книгу
Überblick über das, was man wissen muss, wenn man Bescheid wissen will und mitreden können möchte.

      Dabei enthält jeder Band der Reihe Hänssler kurz und bündig die folgenden Elemente:

      • Fakten und Basisinformationen

      • die Diskussion kontroverser Fragen

      • praktische Hilfen und Hinweise zum Weiterarbeiten

      All das ist so angelegt, dass der Leser sich in zwei bis drei Stunden (also etwa statt des Abendkrimis oder auf einer Zugfahrt) ein Thema in seinen Grundlagen aneignen kann. Die Anwendung im Leben oder das anschließende Gespräch mit anderen wird dann aber sicher etwas länger dauern …

      Ich würde mir wünschen, dass dieser kleine Band Ihren Horizont erweitern kann und die Informationen liefert, die Sie suchen.

      Thomas Schirrmacher

      Vorwort des Herausgebers

      In früheren Jahrhunderten mag für den Westen die Frage, wie das islamische Rechtssystem funktioniert, gleichgültig gewesen sein. Doch im Zeitalter der Globalisierung können wir es uns gar nicht mehr leisten, das Rechtsverständnis, das in islamischen Ländern zumindest teilweise gilt und das zumindest theoretisch für 1 Milliarde Muslime von Bedeutung ist, zu ignorieren. Längst sind wir von den Auswirkungen auch in unserem Alltag betroffen, durch die große Weltpolitik ebenso wie dadurch, dass Muslime unsere Nachbarn sind und die Frage der Gültigkeit islamischer Rechtsbestimmungen vor deutschen Gerichten verhandelt wird.

      Das Recht der europäischen Staaten ist eine Mischung aus christlicher Ethik und Geschichte, griechisch-römischer Zivilisation und Errungenschaften von Aufklärung und Demokratie. Keine dieser drei Wurzeln hilft uns, die Rechtssysteme anderer Kulturen wie das islamische oder chinesische wirklich zu verstehen. Zu anders funktioniert dort die Gesellschaft, die Familie, das Verhältnis von Staat und Religion oder das Gefüge von Scham und Schuld. Deswegen muss uns jemand an die Hand nehmen, der uns kurz und bündig in diese fremde Welt einführt.

      Es gibt nur wenige Fachleute, die die Scharia von ihren Originalquellen her kennen und ihre unterschiedliche Ausprägung weltweit in Geschichte und Gegenwart studiert haben. Und von diesen sind wiederum nur einzelne in der Lage, ihr Fachwissen so knapp und verständlich – kurz und bündig – so zusammenzufassen, dass sie dem Einzelnen nützen, der seine Nachbarn verstehen oder alltägliche Zeitungsberichte aus der islamischen Welt einordnen möchte. Die Autorin dieses Bandes hat in Fachbüchern und Fachvorträgen auf wissenschaftlichen Symposien bewiesen, wie gründlich und differenziert sie sich seit Langem mit der Bedeutung der Scharia weltweit beschäftigt hat, zugleich aber in Büchern wie »Kleines Lexikon zur islamischen Familie« gezeigt, dass man dieses Wissen allgemein verständlich zusammenfassen kann, sodass es jedem nützt, der im Alltag mit Menschen muslimischer Herkunft zu tun hat.

      Thomas Schirrmacher

I Was ist die »Scharia«?

      Vor wenigen Jahren hätten die meisten Menschen in Deutschland wohl noch ein Lexikon bemühen müssen, um den Begriff »Scharia« nachzuschlagen. Seit Kurzem jedoch, insbesondere seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001, taucht der Begriff in Presse- und Medienberichten immer stärker auf – aber ist er inhaltlich auch klarer geworden?

      Häufig wird er als Schlagwort benutzt, um den Einfluss des Islam in Deutschland zu beschreiben. Nicht alles, was mit dem Islam zusammenhängt, hat aber auch mit dem Thema Scharia zu tun. Manches gehört eher in den Bereich gesellschaftlicher Entwicklungen, die durch die Gastarbeitermigration ab den 1960er-Jahren lange unbemerkt und auch bewusst ignoriert vor sich gingen, bis sich heute endlich in aller Klarheit abgezeichnet hat, dass eine Zahl von rund 3,2 bis 3,4 Mio. Muslimen (mit steigender Tendenz) dauerhaft in Deutschland und etwa 16 bis 20 Mio. Muslime in ganz Westeuropa leben werden. Damit betrifft das Thema der Scharia nicht mehr nur Nahostexperten und Islamwissenschaftler, sondern eigentlich jeden, der in Europa und in Deutschland lebt.

      Insbesondere für den juristischen Bereich ist die Thematik von Belang. So hat sich die Rechtsprechung in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur mit Urteilen zum lautsprecherverstärkten Gebetsruf, zum Moschee- und Minarettbau und zum Kopftuch beamteter Lehrerinnen beschäftigt, sondern auch mit der Erlaubnis zum betäubungslosen Schlachten (Schächten) von Tieren, mit Ehrenmorden, Zwangsheiraten und Befreiungen von Klassenfahrten, Schulsport und Biologieunterricht. In arabischen Ländern erben Frauen häufig nur die Hälfte, ihr Zeugnis in Strafrechtsprozessen ist vor Gericht nur eingeschränkt oder gar nicht rechtsgültig, sie werden bei Anklage wegen Ehebruchs härter bestraft und können in vielen Ländern nichts gegen eine Zweit- oder Drittheirat ihres Ehemannes oder ihre Verstoßung und den Entzug ihrer Kinder nach der Scheidung unternehmen.

      Das alles hat mit der Scharia zu tun, ohne dass wir einen Rechtstext oder ein Gesetzbuch der Scharia aufschlagen und diese Vorschriften darin finden würden. Die Scharia ist kein in Rechtstexte gegossenes Buch von Vorschriften, aber auf der anderen Seite auch keine unbestimmbare, verschwommene Größe, die nur in der Theorie existierte. Sie ist einerseits interpretierbar und damit prinzipiell flexibel, andererseits stammen ihre Wurzeln aus der Zeit des 7. bis 10. Jahrhunderts n. Chr.

      Manche Frauenrechtlerinnen oder Menschenrechtsaktivisten betonen, dass der Islam gar nichts mit einer Unterdrückung der Frau zu tun habe und die Scharia ihre rechtliche Benachteiligung eigentlich nicht vorsähe, sondern diese einer frauenfeindlichen Interpretation zuzuschreiben sei. Ist die Scharia also in ihrer Reinform ein Werkzeug der Gleichberechtigung und ein Hort der Freiheit, der nur durch Machtmissbrauch und Fehlinterpretation zum Unterdrückungsinstrument in der Hand politischer wie religiöser Eliten wird?

      Dieses Buch legt in allgemein verständlicher Weise dar, was die Scharia ist, wie sie sich ursprünglich entwickelte und wie sie heute interpretiert wird, welche Themenbereiche sie abdeckt und wozu sie sich nicht äußert und was das für das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Europa bedeutet.

      Was die Scharia nicht ist

      • Ein abgeschlossener Strafrechtskatalog

      • Ein Gesetzbuch, das man käuflich erwerben und ins Regal stellen könnte

      • Eine gedruckte Sammlung von Gesetzen, in der man die Scharia-Strafen etwa für Ehebruch, Mord und Diebstahl nachschlagen könnte

      Was die Scharia ist

      • Ein Ideal eines Gottesgesetzes, das die Mehrzahl der Muslime bis heute zumindest in der Theorie für unverändert gültig hält

      • Eine interpretierbare Sammlung von Vorschriften aus mehreren Jahrhunderten. Weder die Vorschriften noch die Interpretationen sind an einer einzigen Stelle zusammengefasst.

      • Ein Katalog von Geboten, der alle Lebensbereiche umfasst.

      Als Muhammad, der Gründer und Stifter des Islam, um das Jahr 610 n. Chr. in seiner Heimatstadt Mekka den Glauben an den einen Gott, Allah, und die Verantwortung jedes Menschen nach dem Tod predigte, tat er dies vor allem als Warner vor dem Gericht und als Mahner, der die arabischen Stämme dazu aufforderte, ihre Vielgötterverehrung aufzugeben und sich dem einen Gott zu unterwerfen. Von 610 bis 622 blieb Muhammad vor allem ein Verkünder ethischer Werte und Normen, die teilweise echte Neuerungen waren und im Gegensatz zum altarabischen Gewohnheitsrecht standen, teilweise Kompromisse mit angestammtem Recht darstellten.