Sie kannte Ray Sands seit mehr als sieben Jahren, noch bevor Evie entführt worden war. Damals hatte sie als Professorin für Kriminologie an der Loyola Marymount University gearbeitet und er war als Gastredner in ihrem Kurs gekommen.
Als Keris Leben nach der Entführung ihrer Tochter auseinanderzufallen begann, war er für sie da gewesen – als ermittelnder Detective und auch als Freund. Er stand ihr zur Seite, als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ und als ihre Karriere den Bach hinunterging. Ray hatte sie damals überzeugt, Polizistin zu werden. Nach zwei Jahren Streifendienst kam sie dann zur Einheit für Vermisste Personen und Ray wurde ihr Partner.
Mit der Zeit waren sie sich näher gekommen. Vielleicht lag es an ihrer lockeren Art miteinander zu flirten. Vielleicht lag es daran, dass sie sich mehrmals gegenseitig das Leben gerettet hatten. Vielleicht lag es einfach an der besonderen Anziehungskraft zwischen ihnen. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass Ray, der schon immer beliebt bei den Frauen gewesen war, aufgehört hatte, über seine weiblichen Bekanntschaften zu sprechen.
In den letzten Monaten hatten sie immer mehr Zeit miteinander verbracht. Sie besuchten sich gegenseitig nach Feierabend, sie gingen zusammen ins Restaurant, sie riefen sich gegenseitig an, wenn es Dinge zu besprechen gab, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Es war fast, als wären sie ein Paar; in fast jeder Hinsicht. Sie hatten bisher nie den letzten entscheidenden Schritt gewagt, um ihre Beziehung zu besiegeln. Sie hatten sich noch nicht einmal geküsst.
Warum will ich nicht, dass er es sagt?
Keri war gerne mit Ray zusammen und ein Teil von ihr wollte mehr von ihrer Beziehung. Sie fühlte sich ihm so nah, dass es beinahe komisch war, dass nichts zwischen ihnen passierte. Dennoch fürchtete sie sich vor dem nächsten Schritt, auch wenn sie den Grund dafür nicht in Worte fassen konnte. Jetzt spürte sie, dass Ray kurz davor war, diese unsichtbare Schwelle zu überschreiten.
„Kann ich dich etwas fragen?“, begann er, als er in Pershing Drive einbog. Diese Straße würde sie bis in die reiche Gegend von Playa del Rey bringen.
„Okay.“
Bitte tu es nicht. Das wird alles ruinieren.
„Du stehst mir so nahe, wie kein anderer auf dieser Welt“, sagte er sanft. „Und ich habe den Eindruck, dass es dir mit mir nicht anders geht. Habe ich recht?“
„Ja.“
Fahr doch etwas schneller, wir sind fast da. Ich muss aus diesem Auto raus.
„Aber wir haben nichts in diese Richtung unternommen“, sagte er.
„Wohl nicht“, murmelte sie unsicher.
„Ich möchte das gerne ändern.“
„M-hm.“
„Ich bitte dich hiermit ganz offiziell um ein Date, Keri. Ich will am Wochenende gerne mit dir ausgehen. Würdest du mit mir zu Abend essen?“
Sie antwortete nicht sofort. Als sie schließlich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, war sie selbst nicht sicher, was es war.
„Besser nicht, Ray. Aber danke für die Einladung.“
Ray starrte geradeaus auf die Straße. Sein Mund stand ein bisschen offen, aber er sagte nichts.
Auch Keri war erstaunt von ihrer Antwort und kämpfte schweigend gegen den Drang an, aus dem fahrenden Auto zu springen.
KAPITEL ZWEI
Ohne noch ein Wort zu wechseln bogen sie von Pershing Drive in Rees Street ein und fuhren den steilen Hügel hinauf, bis sie Ridge Avenue erreichten. Keri sah den Transporter der Spurensicherung vor einem großen Haus stehen.
„Ich sehe die Spurensicherung“, sagte sie tumb, um endlich das Schweigen zu brechen.
Ray nickte und parkte den Wagen hinter dem Transporter. Sie stiegen aus und gingen zum Haus. Keri fummelte an ihrem Pistolengürtel herum, um Ray ein paar Meter Vorsprung zu geben. Sie spürte, dass er nicht in der Stimmung war, Seite an Seite mit ihr zu erscheinen.
Während sie hinter ihm ging, bestaunte sie wieder einmal, wie beeindruckend seine Statur war. Ray, ein einundvierzig Jahre alter Afro-Amerikaner, war über ein Meter neunzig groß, wog bestimmt 100 Kilo und hatte einen Glatzkopf. Früher hatte er als professioneller Boxer sein Geld verdient.
Er sah immer noch aus, als wäre er fit für den Ring, trotz aller Herausforderungen, denen er sich seit dem Ende seiner sportlichen Karriere stellen musste: das Ende seiner Ehe, das neue Leben mit einem Auge aus Glas, die Schussverletzung. Er war stark bemuskelt, aber nicht übergewichtig, und gleichzeitig überraschend galant für einen Mann seiner Größe. Kein Wunder, dass er so beliebt bei den Frauen war.
Ein paar Monate zuvor hätte sie sich vielleicht gewundert, warum er sich für sie interessierte. Aber in letzter Zeit hatte sie, obwohl sie fast sechsunddreißig war, wieder den jugendlichen Elan zurückgewonnen, der ihr auch früher schon Bewunderung vom anderen Geschlecht eingebracht hatte.
Sie würde nie ein Supermodel werden, aber seit sie wieder Kampfsport betrieb und nicht mehr so viel Alkohol trank, hatte sie fünf Kilo abgenommen und war wieder so fit, wie vor der Scheidung. Außerdem hatte sie keine dunklen Ringe mehr unter den Augen und hin und wieder trug sie ihr dunkelblondes Haar sogar offen, anstatt wie gewöhnlich in einem strengen Pferdeschwanz. Sie fühlte sich endlich wieder wohl in ihrer Haut. Warum hatte sie also Rays Einladung ausgeschlagen?
Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt um persönliche Probleme zu wälzen. Konzentrier‘ dich lieber auf den Fall.
Also verdrängte sie alle irrelevanten Gedanken und sah sich aufmerksam um. Sie wollte sich einen Eindruck von der Welt der Raineys verschaffen, bevor sie die Ermittlungen aufnahm.
Playa del Rey war keine besonders große Nachbarschaft, aber die sozialen Differenzen waren gravierend. Keris Appartment befand sich beispielsweise direkt über einem chinesischen Restaurant, in einem Bezirk, in dem größtenteils Arbeiter lebten.
Das gleiche galt für die kleinen Wohnblocks bei Manchester Avenue. Aber je näher man dem Strand und dem Hügel kam, auf dem die Raineys wohnten, desto größer und pompöser wurden die Häuser, die fast alle Ausblick aufs Meer boten.
Das Haus, vor dem sie jetzt stand, war ziemlich beeindruckend, wenn auch nicht so mächtig wie einige Villen in der Gegend. Es strahlte jedoch eine familiäre Gemütlichkeit aus.
Das Gras im Vorgarten war ein bisschen zu lang, um ordentlich zu sein, und überall lagen Spielsachen verstreut, einschließlich einer blauen Plastik-Rutsche und einem umgeworfenen Dreirad. Der gepflasterte Weg zur Haustür war mit Kreide verziert, eindeutig das Werk des sechsjährigen Sohnes. Der Treppenabsatz an der Haustür wies die ausgefeilteren Kunstwerke eines Teenagers auf.
Ray klingelte und warf lieber einen Blick durch den Türspion als zu Keri. Sie spürte seinen Frust und seine Verwirrung und sie beschloss, sich zurückzuhalten. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie sagen sollte.
Keri hörte, wie jemand zur Tür eilte und keine Sekunde später flog die Tür auf und eine Frau Ende dreißig erschien vor ihnen. Sie trug eine lange dunkle Hose und eine elegante Baumwollbluse. Sie hatte kurzes dunkles Haar und hatte ein sympathisches, offenes Gesicht. Ihre Augen waren gerötet und feucht von Tränen.
„Mrs. Rainey?“, fragte Keri in ruhigem Ton.
„Ja. Sind Sie die Detectives?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Ja“, entgegnete Keri. „Ich bin Keri Locke und das hier ist mein Partner, Ray Sands. Dürfen wie hereinkommen?“
„Natürlich. Bitte. Mein Mann Tim holt gerade ein paar Fotos von Jessi. Er wird gleich zu uns stoßen. Haben Sie schon etwas herausgefunden?“
„Noch nicht“, sagte Ray. „Aber wie ich sehe, ist das Team von der Spurensicherung bereits eingetroffen. Wo sind sie?“
„In der Garage. Sie untersuchen Jessis Sachen gerade auf Fingerabdrücke. Mir wurde gesagt, dass ich nichts anrühren soll. Aber ich konnte die Sachen doch nicht einfach auf der