Die Gouvernante folgte ihnen hartnäckig und mit ihr Maria, die über die Wanderung der Kraniche erst unvollständig aufgeklärt war. Teresa hatte zugehört und trat jetzt zu der Kleinen, die sich nach einem anderen Zuhörer umsah. Die Alte war selbst, was die thörichte Menge eine »komische« Person nennt, und wurde von diesem drolligen Kinde angezogen. «Ihrer Ansicht nach war es ein viel höheres Vergnügen, Zo’s Gemüth zu erforschen, als sich die Thiere anzusehen. Sie nahm jetzt aus der Reisetasche, die sie immer bei sich hatte, eine Tafel Chokolade und bot dieselbe der Kleinen an. Diese sah sie groß an und that dann einen Probebiß in das verführerische, von Vanille duftende Gebäck, das ihr durch keinen Rath, nicht gierig zu sein und sich nicht krank zu machen, verbittert wurde. Und diesen günstigen Moment benutzte die schlaue Duenua.
»Wer war der Jemand, den Du gesehen hast und der geradeso wie Mr. Ovid aussah?« fragte sie in dem Tone der Gleichberechtigung, der Kindern im Verkehr mit älteren Leuten immer schmeichelt. Und Zo war so stolz darauf, ihr Gespräch durch eine erwachsene Fremde weiter bringen zu lassen, daß sie sogar die Chokolade vergaß. »Ich wollte noch mehr sagen«, erklärte sie. »Möchtest Du es gern hören?«
»Sehr gern.«
Zo zögerte, denn es war für den unreifen Geist, den Miß Minerva so unbarmherzig überladen hatte, keine leichte Aufgabe, ihrem Gedankengange durch Worte Ausdruck zu geben. Doch geleitet von der gütigen Mutter Natur (der besten aller Gouvernanten!) fand Zo mittels Fragen den Weg aus diesem Labyrinthe.
»Kennst Du Joseph?« begann sie.
Teresa hatte den Bedienten so nennen hören und bejahte.
»Kennst Du auch Mathilde?«
Die Alte hatte das Hausmädchen so nennen hören und bejahte wieder, ja sie half jetzt ihrer kleinen Freundin durch eine Vermuthung.
»Du hast Mr. Ovid ’s Gesicht dicht an dem Carmina’s gesehen.«
Zo nickte aufgeregt.
»Und früher hast Du Joseph’s Gesicht dicht an dem Mathilden’s gesehen.«
»Ich habe gesehen, daß Joseph sie geküßt hat!« platzte Zo mit einem Ausruf des Triumphes heraus. »Warum küßt denn Ovid Carmina nicht auch?«
»Weil die Gouvernante im Wege ist«, ertönte plötzlich eine tiefe Baßstimme zwischen ihnen und ein dickes Bambusrohr deutete über ihre Köpfe auf Miß Minerva. Zo erkannte den Stock sofort und ergriff ihn, und Teresa, die sich umwandte, sah sich einem merkwürdigen Manne gegenüber.
Capitel XII
Der Fremde hätte sich als Riese sehen lassen können, denn er maß gut sechs Fuß sechs Zoll und würde das seltene Beispiel des Zusammengehens von außergewöhnlicher Größe und schöner Proportion gewesen sein, wenn die ungeheuren Knochen die gehörige Fleischhülle gehabt hätten. Er war aber so jämmerlich – ja, man möchte fast sagen, so scheußlich – mager, daß ihn seine Feinde das wandernde Skelett nannten. Unter der massiven Stirn saßen ein Paar große düstere graue Augen und die fleisch- und bartlose untere Partie seines Gesichtes wurde von hervorstehenden Backenknochen beschattet. Seine Gesichtsfarbe, ein wahres Zigeuner braun trug das Ihrige zu dem stutzig machenden Eindruck seiner Erscheinung auf Fremde bei und erhöhte, da sie dunkler im Ton war als seine Augen, die Wirkung des seltsamen, traurig gedankenvollem forschenden Blickes, den er auf Personen; mit denen er sprach, zu richten pflegte, einerlei ob sie der Aufmerksamkeit werth waren oder nicht. Sein gerade herabfallendes schwarzes Haar hing ihm unschön an beiden Seiten des hohlen Gesichtes wie das Haar eines amerikanischen Indianers. Seine großen dunklen Hände, die zur Sommerzeit nie durch Handschuhe bedeckt waren, zeigten bernsteinfarbene Nägel an den nach oben gebogenen stumpf verlaufenen Fingerspitzen, die sich, wenn sie Einen berührten, wie Atlas anfühlten und mit denen er die zerbrechlichsten Gegenstände exquisit zart handhaben konnte. Sein Anzug war von nachlässiger, bequemer Art. Der lange Rock ging ihm bis über die Kniee, die Beinkleider waren wahre Säcke; um den mageren runzligen Hals hing ein weit offenstehender Hemdkragen, der durch kein Halstuch beengt wurde. In Bezug auf die Kopfbedeckung hatte er den Grundsatz, daß dieselbe Solid genug sein müsse, um einem zufälligen Schlag, einem Fall vom Pferde oder der Wucht eines Ziegels Widerstand leisten zu können. Sein harter schwarzer Hut mit breitem gebogenen Rande hätte die Zierde eines Bischofs sein können, wenn er nicht durch eine sonderbare Aehnlichkeit mit der glockenförmigen Kopfbedeckung der Stutzer im Anfange unseres Jahrhunderts säcularisirt worden wäre. Kurz, er war seiner Person und Kleidung nach ein Mann, an dem kein Fremder vorüberzugehen pflegte, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen. Teresa die ihn mit widerstrebender Neugier musterte, zog sich einen Schritt zurück und belegte ihn im Geheimen in ihrer Mundart mit dem wenig schmeichelhaften Titel: »ein häßlicher Kerl!« In medicinischen und wissenschaftlichen Kreisen war er als Doctor Benjulia bekannt – ein Name, der schon durch den ausländischen Klang die Leute eigenthümlich berührte, und den diejenigen, die ihn das wandernde Skelett nannten, mit als Beweis seiner Zigeunerabstammung anführten.
Zo war mit seinem Bambusrohr davongerannt und er rief sie nun nach einem kurzen Blick düsterer Gleichgültigkeit auf die Duenna zu sich zurück.
Die Kleine gehorchte ihm, aber scheinbar nur widerwillig, und sah dabei ohne jede Schüchternheit zu seinem Gesichte auf, ein Beweis, daß sie mit ihm vertraulich bekannt und es gewöhnt war, sich Freiheiten, wie das Fortnehmen des Stockes, herauszunehmen. Und doch lag ein Ausdruck unruhiger Erwartung in ihren runden aufmerksamen Augen. »Willst Du ihn wieder haben?« fragte sie, ihm den Stock hinreichend.
»Gewiß will ich das. Was würde Deine Mutter zu mir sagen, wenn Du über meinen dicken Bambus stürztest und Dir auf diesem harten Kieswege den Schädel entzwei schlügest?«
»Hast Du Mama besucht?«
»Nein, ich habe Mama nicht besucht – aber ich weiß trotzdem, was sie zu mir sagen würde, wenn Du Dir die Hirnschale zerbrächest.«
»Sie würde sagen: Doetor Benjulia, Sie müßten eigentlich Herodes heißen.«
»Wer war das?«
»Herodes war ein jüdischer König, der die kleinen Mädchen umbrachte, wenn sie ihm seinen Spazierstock wegnahmen. Komm’ her, Kind; soll ich Dich kitzeln?«
»Daß Du das sagen würdest, wußte ich«, antwortete Zo.
Während sonst die Menschen, wenn sie sich ganz dem Vergnügen hingeben, mit Kindern zu tändeln, lächeln müssen, ob sie wollen oder nicht, gerade so wie sie Athem holen müssen, erheiterte sich des Doctors Gesicht nie, nicht einmal jetzt, als Zo darauf anspielte, daß es ihm ein Hauptvergnügen sei, Kinder zu kitzeln. Sie gehorchte ihm wieder mit dem seltsamen Ausdruck widerstrebender Unterwürfigkeit und er legte ihr zwei seiner weichen großen Fingerspitzen dicht unter dem Halse auf das Rückgrat und drückte die Stelle» Zo zuckte zusammen und wand sich unter seiner Berührung, und er beobachtete sie mit einem ernsten Interesse, als ob er ein ärztliches Experiment ausführte.
»Gerade so machst Du es, wenn Du unsern Hund mit den Beinen hinten ausschlagen läßt«, sagte so. »Wie fängst Du das an?«
»Ich berühre den plexus cervicalis«, antwortete Doctor Benjulia feierlich wie immer.
Dieser Versuch, das Kind zu Mystifizieren, mißlang aber vollständig, denn Zo betrachtete die unbekannte Zunge, in welcher er geantwortet hatte, als gleichwerthig mit einer Lection und fragte, zu dem kleinen Dachshunde daheim zurückkehrend: »Glaubst Du, daß dem Hunde das gefällt?«
»Ach, was kümmert uns der Hund. Gefällt es Dir?«
»Ich weiß nicht.«
Doctor Benjulia wandte sich Teresa zu und ließ seine düsteren grauen Augen auf ihr ruhen, wie etwa auf dem ersten besten leblosen Dinge, z. B. auf dem Gitter der Vogelhöfe oder auf den Rohren, die das Affenhaus warm hielten. »Ich fürchte, ich habe Sie durch das Albern mit der Kleinen aufgehalten, Madame« sagte er. »Bitte um Verzeihung.« Damit zog er seinen Hut und ging mürrisch weiter, ohne von Zo weiter Notiz zu nehmen.
Teresa, welche die großartige