Zu einer zweiten Discussion mit Lucilla gab die Frage Veranlassung, ob es schicklich sei, daß wir Oscar in Abwesenheit des Ehrwürdigen Finch empfingen. Alles was ich erreichen konnte, war, daß ich sie über redete zu warten, bis sie wenigstens von ihrem Vater gehört haben werde, wogegen ich mich bereit erklären mußte, am nächsten Morgen wieder in der Richtung nach Browndown mit ihr spazieren zu gehen. Durch diese neue Concession gelang es mir, sie zu beruhigen.
Sie hatte sein Geschenk empfangen, sie hatte Briefe mit ihm gewechselt; das war für den Augenblick genug, um sie zu befriedigen.
»Glauben Sie, daß er auf dem Wege ist, sich in mich zu verlieben?« fragte sie mich, ehe sie sich mit ihrer goldenen Vase ins Bett legte, grade wie sie als Kind ein neues Spielzeug mit sich ins Bett genommen haben würde. »Lassen Sie ihm Zeit, liebes Kind,« antwortete ich. »Nicht Jedem ist es gegeben, in einer so ernsten Angelegenheit wie diese so rasch vorzugehen wie Ihnen.« Mein Scherz übte keine Wirkung auf sie. »Nehmen Sie die Kerze fort,« sagte sie. »Ich bedarf ihrer nicht, ich kann ihn mit meinem inneren Auge sehen.« Sie legte sich bequem auf ihrem Kissen zurecht und klopfte mir mit neckischem Trotz auf die Wange, als ich mich über sie beugte. »Gestehen Sie nur, daß ich jetzt gegen Sie im Vortheil bin,« sagte sie. »Sie können im Dunkeln nicht ohne Ihre Kerze sehen; ich könnte in diesem Augenblick durch das ganze Haus gehen, ohne einen einzigen Fehltritt zu thun.«
Ich glaube aufrichtig, an jenem Abend war das »arme Fräulein Finch« das glücklichste Mädchen der Welt!
Zwölftes Kapitel.
Ein häuslicher Aufruhr nöthigte uns am nächsten Morgen, unsern beabsichtigten Spaziergang nach Browndown einige Stunden aufzuschieben
Die alte Amme Zillah war während der Nacht krank geworden; die Mittel, die wir zur Hand hatten, gewährten ihr so wenig Erleichterung, daß wir am Morgen zum Arzt schicken mußten, der in einiger Entfernung von Dimchurch wohnte. Da dieser die erforderliche Medicin erst von seiner Wohnung holen lassen mußte, wurde es fast ein Uhr Nachmittags, bevor die verordneten Mittel ihre Wirkung thaten und die Amme sich hinlänglich erholt hatte, um uns zu ermöglichen, sie der Pflege der Magd zu überlassen.
Wir hatten die nöthige Toilette für unsern Spaziergang gemacht, wobei natürlich Lucilla viel früher fertig war als ich, und waren eben an der Gartenpforte angelangt als wir von jenseits der Gartenmauer her eine sonore Baßstimme sagen hörten: »Glauben Sie mir, mein werther Herr, die Sache hat nicht die mindeste Schwierigkeit. Ich brauche nur eine Anweisung an meine Banquiers nach Brighton zu schicken.«
Lucilla fuhr zusammen und faßte mich am Arm.
»Mein Vater!« rief sie mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens aus. »Mit wem spricht er?«
Ich hatte den Schlüssel zur Gartenpforte bei mir. »Was für eine prächtige Stimme Ihr Vater hat,« sagte ich, während ich den Schlüssel aus der Tasche nahm und die Pforte öffnete. Vor uns standen Arm in Arm, als hätten sie sich von Jugend auf gekannt Lucilla’s Vater und Oscar Dubourg. Der Ehrwürdige Finch eröffnete die Verhandlungen, indem er seine Tochter zärtlich umarmte, mit den Worten:
»Mein liebes Kind, Deinen sehr interessanten Brief erhielt ich diesen Morgen. Sobald ich ihn gelesen hatte, fühlte ich, daß ich gegen Herrn Dubourg eine Pflicht zu erfüllen habe. Als Pfarrer von Dimchurch lag es mir erklärlich ob, einen bekümmerten Bruder zu trösten. Ich fühlte in der That, wenn ich so sagen darf, ein Verlangen, die Hand der Freundschaft diesem schwer geprüften Manne darzureichen. Ich borgte mir den Wagen meines Freundes und fuhr direct hierher. Wir haben eine lange und herzliche Unterhaltung mit einander gehabt; ich habe Herrn Dubourg mit hergebracht; er muß zu uns gehören. Mein liebes Kind, Herr Dubourg muß zu uns gehören. Laß mich Dich vorstellen. Meine älteste Tochter, Herr Dubourg!«
Er vollzog die Ceremonie der Vorstellung mit so unterschütterlichem Ernst als glaube er wirklich, daß seine Tochter und Oscar sich jetzt zum ersten Male sähen. In meinem Leben hatte ich keinen gemeiner aussehenden Menschen gesehen als diesen Pfarrer. Er reichte mir kaum bis an die Schulter und war von einer so jammervollen Magerkeit daß er aussah wie eine Personification des Hungers. Er hätte sich nur in Lumpen zu kleiden gebraucht um in den Straßen London’s sein Glück zu machen; sein Gesicht war ganz mit Pockennarben bedeckt; sein kurzes häßliches Haar stand steif und gerade in die Höhe, wie die Haare eines Besens. Seine kleinen weißlich grauen Augen hatten einen unruhigem inquisitorischen hungrigen Blick, der etwas unbeschreiblich Irritirendes und Unbehagliches hatte. Sein einziger äußerer Vorzug war seine herrliche Baßstimme, die aber zu der ganzen Erscheinung des Mannes durchaus nicht paßte. Bis man sich an den Contrast gewohnte, hatte es etwas fast Unerträgliches, diese vollen, prächtigen tiefen Töne aus dem schmächtigen kleinen Körper herauskommen zu hören. Das berühmte lateinische Wort enthält eine bessere Schilderung des Ehrwürdigen Finch, als ich sie zu geben im Stande bin; er war in Wahrheit: Nichts als Stimme »Madame Pratolungo, nicht wahr?« fuhr er fort, in dem er sich zu mir wandte. »Es freut mich ungemein, die Bekanntschaft der umsichtigen Gesellschafterin und Freundin meiner Tochter zu machen. Sie müssen zu uns gehören, wie Herr Dubourg. Erlauben Sie mir, Sie mit Herrn Dubourg bekannt zu machen: Madame Pratolungo, Herr Dubourg. Dies ist der ältere Theil des Pfarrhauses, mein werther Herr Dubourg. Wir haben ihn wieder in Stand setzen lassen, es war, – wie lange ist es doch her? – richtig, es war gerade nach der vorletzten Entbindung meiner Frau.« (Ich merkte bald daß Herr Finch die Zeit immer nach den Entbindungen seiner Frau berechnete). »Sie wer den den Bau im Innern sehr merkwürdig und interessant finden. Lucilla, mein Kind! Es hat der Vorsehung gefallen, mein werther Herr Dubourg, meiner Tochter das Augenlicht zu versagen. Unerforschliche Vorsehung! – Lucilla, wir sind hier an dem Theil des Hauses, der Dir gehört; reiche Herrn Dubourg den Arm und geht voran. Mache die Honneurs des Hauses, mein Kind. Madame Pratolungo, erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Arm reiche. Ich bedaure, daß ich bei Ihrer Ankunft nicht anwesend war, um Sie im Pfarrhause zu bewillkommnen; betrachten Sie sich, ich bitte recht sehr darum, als ganz zu uns gehörig.«
Er stand still und stimmte sein gewaltiges Organ zu einem vertraulichen Gemurmel herab: »Ein herrlicher Mensch dieser Herr Dubourg, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr er mir gefällt; und welch eine traurige Geschichte. Verkehren Sie fleißig mit Herrn Dubourg, meine liebe Pratolungo; mir zu Gefallen, verkehren Sie fleißig mit Herrn Dubourg.«
Er sagte das mit dem Ausdruck der tiefsten Besorgniß; noch mehr, er bekräftigte es durch einen zärtlichen Druck meiner Hand. Ich habe meiner Zeit viele verwegene Menschen kennen gelernt; aber die Verwegenheit des Ehrwürdigen Finch, welcher die Stirn hatte, sich uns gegenüber beharrlich zu stellen, als ob er unsern Nachbar entdeckt habe, und als ob Lucilla und ich völlig unfähig seien, ohne seinen Beistand Oscar zu verstehen und zu würdigen, übertraf Alles, was ich in dieser Art je erlebt hatte. Ich fragte mich, was sein für Lucilla und mich gleich unerwartetes Benehmen zu bedeuten haben möge. Das, was ich durch seine Tochter über seinen Charakter erfahren hatte, in Verbindung mit dem, was wir ihn außerhalb der Gartenmauer hatten sagen hören, ließ mich vermuthen, daß der Schlüssel zu seinem Benehmen in einem Geldinteresse liege.
Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder. Der einzige unter uns, der sich ganz behaglich zu fühlen schien, war Herr Finch. Er ließ seine Tochter und seinen Gast keinen Augenblick allein. »Mein liebes Kind, zeige Herrn Dubourg dies, zeige Herrn Dubourg das. Meine Tochter besitzt dies, meine Tochter besitzt das;« so ging es eine Weile fort. Oscar schien durch die überwältigenden Aufmerksamkeiten seines neuen Freundes ein wenig erschreckt zu sein. Lucilla war, wie ich sehen konnte, innerlich aufgebracht daß sie im Aufträge ihres Vaters Oscar Aufmerksamkeiten erweisen mußte, die sie ihm gern aus freien Stücken erwiesen hätte.
Was mich betrifft, so fing ich bereits an, der patronisirenden Höflichkeit des kleinen Pfaffen mit der mächtigen Stimme überdrüssig zu werden und wir fühlten uns alle erleichtert als eine Botschaft von Frau Finch eintraf, welche ihren Gatten ersuchen ließ sofort in den vorderen Theil des Pfarrhauses zu ihr zu kommen, um eine häusliche Angelegenheit mit ihr zu besprechen. Gezwungen, uns zu verlassen, hielt der Ehrwürdige Finch seine Abschiedsrede. Indem er Oscars Hand mit einer Art von väterlicher Zärtlichkeit in seinen beiden Hände nahm, sprach er mit einer