Auf diese Weise kam es, daß Esther Prynne in der Welt eine Rolle zu spielen hatte. Bei der angeborenen Charakterenergie und seltenen Fähigkeit, welche sie besaß, konnte sie jene nicht völlig abwerfen, obgleich sie ihr ein Zeichen aufgedrückt hatte, welches für das Herz eines Weibes unerträglicher war als das Mal auf Kains Stirn. Bei ihrem ganzen Verkehr mit der Gesellschaft kam jedoch nichts vor, was ihr das Gefühl verliehen hätte, als ob sie zu derselben gehörte. Jede Gebärde, jedes Wort und selbst das Schweigen jener, mit welchen sie in Berührung kam, ließen ahnen und drückten sogar oft aus, daß sie verbannt und ebenso allein sei, als ob sie einen andern Planeten bewohne oder mit der gemeinen Natur durch andere Organe und Sinne als die übrigen Menschen verbunden sei. Sie war von den Interessen der Sterblichen abgesondert und doch dicht neben ihnen wie ein Geist, welcher den heimischen Herd wieder besucht und sich nicht mehr sichtbar oder fühlbar machen, nicht mehr mit der Freude der Haushaltung lächeln, nicht mehr mit dem verwandten Kummer trauern kann, oder wenn es ihm gelingen sollte, seine verbotene Teilnahme kundzugeben, nur Schrecken und furchtbaren Widerwillen erweckt. Diese Empfindungen und überdies die bitterste Verachtung schienen das einzige zu sein, was sie noch im Herzen der Menge bewahrte. Es war kein Zeitalter feiner Empfindungen, und ihre Stellung wurde, wiewohl sie sie vollkommen begriff und nur geringe Gefahr lief, sie zu vergessen, oft durch die rauheste Berührung der zartesten Stellen wie eine neue Qual vor das lebhafte Bewußtsein ihrer selbst gebracht. Die Armen, wie schon gesagt, welche sie aufsuchte, um ihnen wohlzutun, schmähten oft die Hand, welche ausgestreckt wurde, um sie zu unterstützen. Damen von hohem Range, in deren Tür sie trat, wenn es ihre Beschäftigung so mit sich brachte, waren ebenfalls gewohnt, Tropfen der Bitterkeit in ihr Herz fließen zu lassen, zuweilen durch die Alchemie ruhiger Malice, womit die Frauen aus gewöhnlichen Kleinigkeiten ein feines Gift zusammenkochen können, zuweilen auch durch einen gröbern Ausdruck, der auf die ungeschützte Brust der Leidenden fiel, wie ein schwerer Schlag auf eine eiternde Wunde. Esther hatte sich lange und gut geschult: sie antwortete auf diese Angriffe nie durch anderes als eine purpurne Röte, welche unwiderstehlich auf ihre bleiche Wange stieg und wieder in die Tiefen ihrer Brust versank. Sie war geduldig, eine wahre Märtyrerin, aber sie enthielt sich des Gebets für ihre Feinde, damit sich nicht, trotz ihres Wunsches zu verzeihen, die Worte der Segnung hartnäckig in einen Fluch verkehrten.
Immerfort und auf tausenderlei Weise fühlte sie das Herzklopfen der Pein ohne Unterlaß, das ihr von dem unvergänglichen, allzeit tätigen Urteilsspruch des puritanischen Tribunals so ausgeklügelt zugedacht worden war. Geistliche blieben auf der Straße stehen, um Worte der Ermahnung an sie zu richten, die einen Auflauf von Menschen mit seinem Gemisch von Spottlächeln und Stirnrunzeln um das arme sündige Weib versammelten. Wenn sie in eine Kirche trat und das Sonntagslächeln des Vaters aller zu teilen hoffte, so war es oft ihr Mißgeschick, zu finden, daß sie selbst den Text der Rede abgab. Allmählich begann sie vor Kindern Furcht zu hegen, da sie von ihren Eltern eine unbestimmte Vorstellung von etwas Entsetzlichem an diesem einsamen Weibe einsogen, welches so stumm und nie mit andern Gefährten als einem einzigen Kinde durch die Stadt glitt. Sie ließen sie daher zuerst vorüber, und verfolgten sie dann aus der Ferne mit schrillem Geschrei und dem Nachrufen eines Wortes, welches für ihr eigenes Bewußtsein keine klare Bedeutung besaß, aber für Esther um so furchtbarer war, weil es von Lippen kam, die es nachschwatzten. Das alles schien eine so weite Verbreitung ihrer Schmach zu beweisen, daß die ganze Natur davon wußte. Es hätte ihr keinen tiefern Schmerz bereiten können, wenn das Laub an den Bäumen sich die düstere Geschichte zugeflüstert, wenn das Sommerlüftchen davon gemurmelt, wenn der Wintersturm sie laut ausgeschrien hätte. Eine andere eigentümliche Folter lag in dem Blicke eines neuen Auges. Schauten Fremde mit Neugier auf den Scharlachbuchstaben – und niemals verfehlte einer dies zu tun –, so brannten sie ihn frisch in Esthers Seele ein; so daß sie sich zuweilen kaum enthalten konnte, sich aber doch stets enthielt, das Symbol mit ihrer Hand zu bedecken. Dann aber hatte auch wieder ein kühles, vertrautes Auge seine eigene Pein aufzuerlegen. Sein kaltes bekanntes Gaffen war unerträglich. Ja, von Anfang bis zu Ende hatte Esther Prynne stets die entsetzliche Qual zu erleiden, daß sie ein menschliches Auge auf dem Zeichen fühlte. Die Stelle wurde nie unempfindlich, es schien sogar, als ob sie durch die tägliche Folter reizbarer werde.
Aber zuweilen in vielen Tagen oder vielleicht in vielen Monaten einmal fühlte sie ein Auge, ein menschliches Auge, auf dem schmählichen Brandmale, und es schien ihr eine vorübergehende Erleichterung zu gewähren, als ob die Hälfte ihrer Pein geteilt werde. Im nächsten Augenblicke strömte sie völlig wieder zurück und fügte ihr eine noch tiefere Qual zu, denn in diesem kurzen Zwischenraum hatte sie von neuem gesündigt. Hatte Esther allein gesündigt?
Ihre Einbildungskraft war einigermaßen von der eigentümlichen einsamen Folter ihres Lebens angegriffen und würde es noch mehr gewesen sein, hätte sie weichere moralische und intellektuelle Fasern besessen. Wenn sie mit ihren einsamen Schritten in der kleinen Welt, mit welcher sie äußerlich verbunden war, her und hin ging, kam es ihr zuweilen vor – war es auch ganz Phantasie, so besaß es doch zu viele Kraft, um Widerstand dagegen leisten zu können –, sie fühlte oder glaubte also zuweilen, daß der Scharlachbuchstabe ihr einen neuen Sinn verliehen habe. Es schauderte ihr bei dem Glauben, und doch konnte sie sich desselben nicht enthalten, daß er ihr eine sympathetische Kenntnis der verborgenen Sünde in dem Herzen anderer verleihe. Sie wurde von Entsetzen über die ihr so zuteil werdenden Enthüllungen ergriffen. Was waren sie? Konnten sie etwas anderes sein als das hinterlistige Flüstern des bösen Engels, der das widerstrebende Weib, bis jetzt nur halb sein Opfer, zu gern überredet hätte, daß die äußere Hülle der Reinheit nur eine Lüge sei, und daß, müßte überall die Wahrheit gezeigt werden, mancher andere als Esther Prynne den Scharlachbuchstaben auf seiner Brust flammen sehen würde? Oder mußte sie diese ihr dunkeln und doch so lebhaften Andeutungen als Wahrheit nehmen? In ihrer ganzen unglückseligen Erfahrung gab es nichts Furchtbareres und Abscheu Erregenderes als dieses Gefühl. Es verwirrte und entsetzte sie durch das unehrerbietige Unpassende der Anlässe, das es zu lebhafter Tätigkeit brachte. Zuweilen ließ die rote Schmach auf ihrer Brust ein sympathetisches Pochen fühlen, wenn sie an einem ehrwürdigen Geistlichen oder einer Magistratsperson vorüberkam, zu der jene altertümliche Zeit voller Ehrerbietung als Muster der Frömmigkeit und Gerechtigkeit wie zu einem mit Engeln in Gemeinschaft stehenden Sterblichen emporblickte. ›Welches schlimme Ding ist in der Nähe?‹ pflegte Esther zu sich zu sagen, und wenn sie ihre widerstrebenden Augen erhob, so war nichts Menschliches sichtbar als die Gestalt dieses irdischen Heiligen. Dann wieder machte sich eine mystische Schwesterschaft schmählich bemerkbar, wenn sie dem scheinheiligen Stirnrunzeln einer Matrone begegnete, die, wie alle Zungen behaupteten, ihr Leben lang kalten Schnee in ihrer Brust bewahrt hatte. Jener Schnee in der Matrone Busen, auf den nie ein Sonnenschein gefallen war, und die brennende Schmach auf der Brust Esther Prynnes – was hatten die beiden miteinander gemein? Oder ein anderes Mal verkündete ihr das elektrisierende Zucken: siehe da, Esther, hier ist eine Genossin! Und wenn sie aufblickte, entdeckte sie die Augen eines jungen Mädchens, welches scheu und verstohlen auf den Scharlachbuchstaben blickte und sich schnell wieder mit einemschwachen, kühlen Purpur auf den Wangen abwendete, als ob ihre Reinheit durch die rasche Betrachtung etwas besudelt worden sei. O Teufel, dessen Talisman dieses