Den meisten Jägern und Hunden war es allmählich unmöglich, dem Voranstürmenden zu folgen, ermattet und entmuthigt blieben sie zurück. Und als auch der Letzte endlich das tolle Jagen aufgeben mußte, da murmelte er bestürzt in sich hinein:
»Gott verzeih mir, das geht nicht mit reihten Dingen zu! Junker Wilfried muß verhext, oder vom bösen Feinde besessen sein!«
Der junge Graf aber dachte nicht an seine Diener, er hielt den flammenden Blick auf den bunten Hirsch und sein riesiges Geweih gerichtet und war einzig und allein von dem verzehrenden Verlangen erfüllt, ihn einzuholen.
Zuweilen gelang es ihm dem Flüchtling ziemlich nah zu kommen dann jubelte er, und frohlockte über den bevorstehenden Sieg; plötzlich schien aber das Thier der ihm drohenden Gefahr sich bewußt zu werden, und mit erneuter Schnelligkeit rannte er weiter.
Wäre Wilfried von seiner fieberhaften Begierde nicht ganz und gar geblendet worden, so würde ihm selbst der Gedanke gekommen sein, ob er nicht etwa unter dem Einfluß eines geheimen Zaubers stehe, denn es war als wenn der Hirsch ihn absichtlich verlockte; doch er hatte für alles Andere die Besinnung gänzlich verloren, und so ging es fort, über Berg’ und Thal, durch Bäche und Pfützen, durch Haide und Wald. Der Schweiß troff dem Unermüdlichen in Strömen von der Stirn, sein dampfendes Pferd war mit Schaumflocken bedeckt.
Lange, sehr lange dauerte das wilde Jagen; vier Stunden mochte Wilfried zurückgelegt haben, als er in eine ihm gänzlich unbekannte Gegend kam, deren Boden durch ein Erdbeben verwüstet schien und in der Alles den Stempel der Vernichtung trug.
Da gewahrte er weithin, am Ende der holperigen Fläche nach der Richtung, welche der fliehende Hirsch eingeschlagen einen hatte, eine Erhöhung, die er für felsige Hügel hielt; bald traten jedoch die Formen deutlicher hervor und er erkannte daß es die Ruinen einer alten Burg sein mußten. Hier und da ragten aus den Trümmern die geborstenen Reste zinnenbedeckter Mauern hervor, an einer Seite erhob sich selbst ein mächtiger Thurm, halb eingestürzt zwar, doch in seinen unteren Theilen noch gut erhalten. Wo vormals die Burg gestanden hatte, war alles von Geröll und Erde bedeckt, darin wildes Gewächs wurzelte; selbst in dem Mauerwerk des halbzerstörten Thurmes wuchsen verkrüppelte Bäume und wiegten ihre Kronen im Winde.
Nur einen flüchtigen Blick warf der junge Graf auf diese Ruinen, denn so nah wie jetzt war er dem Hirsch noch nie gekommen und von der Hoffnung getrieben, ihn endlich zu erreichen, spornte er sein Pferd zu unerhörter Anstrengung an. Das gequälte Thier wieherte vor Schmerz und Wuth und flog mit Blitzesschnelle weiter, daß es dem Reiter schwindelte und er den Athem fast verlor. Keine hundert Schritte trennten ihn mehr von dein Ziel seiner Wünsche, der Hirsch wankte, es ging zu Ende mit seiner Kraft, ha, jetzt mußte Wilfried ihn einholen und erlegen!
Doch, großer Gott, was war denn das! Der Hirsch hatte sich den Trümmern der Burg genähert und war plötzlich in der Erde verschwunden.
Ueberrascht und bestürzt hielt Wilfried sein Pferd an und stieg ab. Da bemerkte er denn an der Stelle, wo er das Thier aus den Augen verloren, eine Oeffnung, die sich in den Boden zu verlängern schien.
Das mußte ein unterirdischer Gang der alten Burg sein! Das Gewölbe war hier und da eingestürzt, denn in der fernen Tiefe drang das Tageslicht an mehr als eine Stelle bis auf den feuchten Boden.
Die Ueberzeugung, daß das erschöpfte Thier hier Schutz gesucht haben müsse, entfachte von Neuem die Begierde des Jünglings und rief das triumphierende Lächeln auf seine Lippen zurück.
An einem grasbewachsenen Orte band er sein Roß an einen Baum und betrat dann behutsam und voll froher Erwartung den finstern Gang; anfangs schritt er durch dessen Mitte und strauchelte wiederholt über Steinblöcke oder auf dem durchweichten glatten Lehmboden; doch dann gewahrte er, daß an der einen Seite des Ganges ein schmaler Pfad gebahnt war, in dem sich selbst die Abdrücke eines menschlichen Fußes erkennen ließen. Sollte die alte Burg noch bewohnt sein? Oder hatte ein zufälliger Besucher wie er diese Spuren hinterlassen.
Diese Erwägung hielt ihn indessen nicht lange zurück; neben den erwähnten Fußstapfen sah er den leichten Huf des Hirsches und das war genug, ihn unaufhaltsam weiter zu treiben.
Am Ende des Ganges stieß er auf eine zerfallene Steintreppe die offenbar in den übrig gebliebenen Theil des alten Thurmes führte. Ein anderer Ausgang war nicht da; er mußte also die Treppe hinaufsteigen und seine Verfolgung einstweilen einstellen.
Kaum war er indessen über die Höhe des Gewölbe hinaus, als er regungslos und seinen Augen nicht trauend im ängstlichem Staunen vor einer offen stehenden Kammer Halt machte.
Was er sah, war ihm ganz unerklärlich. An den geborstenen, halb zerstörten Wänden dieser Kammer, auf rohen Brettern oder auf dem Boden lagen und hingen hunderterlei seltsame Dinge, die er nur theilweise kannte: Bilder von Sonne, Mond und Sternen, ausgestopfte Thiere, Gerippe, alte verschlissene Bücher, Töpfe, Sanduhren und kleine Abbildungen in Wachs, Alles wirr durcheinander, zerbrochen und von schwarzem, bestaubten Spinngewebe halb verdeckt.
Mehr noch denn alle dieses fesselte ihn indessen der Anblick einer menschlichen Gestalt, die, ein großes Buch auf den Knieen, über die Seiten gebeugt saß, wie ganz in deren Inhalt versunken.
Zuerst glaubte Wilfried, die Abbildung eines Greises mit silberweißem Haar und Bart vor sich zu sehn; »hätte der Künstler,« sagte er zu sich selbst, »der Stirn und den Wangen ein wenig Fleischfarbe beigemischt, so würde man darauf schwören, daß das Bild lebe, aber unter dieser vertrockneten, farblosen Haut, die vergilbten Pergamente gleicht, kann niemals Blut geflossen haben.« Dennoch mußte der Jüngling sich gestehn, daß die Nachbildung eine täuschend ähnliche sei.
Von Neugierde getrieben wollte er sich dem vermeintlichen Bilde nähern und trat einen Schritt vor, um aber im nächsten Augenblick entsetzt zurück zu springen; er sah deutlich, wie ein Blatt des Buches umgeschlagen wurde!
Also doch ein lebendes Wesen, kein Bild!
Der Alte schien Wilfrieds Anwesenheit nicht zu bemerken; tiefer noch beugte er sich über das Buch und widmete sich mit ungetheilter Aufmerksamkeit seiner Lesung.
Nach einigen einigen Augenblicken des Zauderns und der Stille erhob Wilfried seine Stimme:
»Der Friede sei mit Euch, guter Vater,« sagte er, »ich verfolge einen Hirsch, der in diesen Ruinen . . . «
Der Greis aber sprang auf und rief, die Hände zum Himmel erhebend in lebhafter Freude.
»Dank und Preis sei Ihm, dessen heiligen Namen zu nennen ich unwerth bin! O Herr Ritter, Euer Kommen ist ein unaussprechliches Glück für mich!«
»So kennt Ihr mich?« murmelte der Jüngling erstaunt; »Ich erinnere mich nicht, Euch je im Leben gesehn zu haben«
»Auch ich, Herr, habe Euch nie zuvor gesehn, und doch kenne ich Euch besser, als Ihr selbst Euch kennt. Ihr seid Wilfried, der einzige Sohn Folkards, Grafen von Iserstein und Judith von Blumenfels seiner Gemahlin.«
In der That. Doch warum seid Ihr so erfreut über meine Anwesenheit?«
Der Alte schien zu erschrecken ob dieser Frage und schüttelte zögernd den Kopf.
»Ist es ein Geheimniß?« forschte Wilfried, mehr und mehr erstaunt.
»Ein Geheimniß?« rief der Greis, »o freilich, ein Geheimniß so schrecklich, so grauenhaft, daß mein Mund sich sträuben würde, es zu offenbaren, wenn nicht Euer Leben daran hinge.
»Ach mein armer junger Freund, ich stehe im Begriff, Euch mit Verzweiflung und Entsetzen zu erfüllen, Euer Herz zu zerreißen, Euch der Stunde Eurer Geburt fluchen zu machen . . . und doch muß ich reden, wenngleich dass Mitleid mit Eurem gräßlichen Geschick mir blutige Thränen auspresst.«
Mit diesen Worten sank der Alte auf seinen Stuhl zurück und begann still zu weinen.
Wilfried wußte nicht, was er denken, was er glauben