»Und wie denkt der jetzt?«
»Wer? Francesco Fais? Er lacht und singt den ganzen Tag, während die Mutter so scheu ist wie ein Hase. Nun, du wirst ihn ja sehen.«
Gavina zuckte die Achseln. Sie mochte arme Leute nicht und darum lag ihr gar nichts daran, die Witwe Fais kennen zu lernen. Auch Paska kümmerte sich nicht weiter um Michelas Geplauder. Da schlug das junge Mädchen ein anderes Thema an. Sie war äußerst religiös; war, wie es häufig vorkam, ihr alter Vater nicht daheim, so konnte sie einen ganzen Tag in der Kirche verbringen. Sie glaubte an Geister, an Wundererscheinungen und behauptete, die Seele ihrer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter gesehen zu haben.
Gerade das Außergewöhnliche an dem sich selbst und seiner Phantasie überlassenen blassen, hysterischen Wesen war es, was Gavina zu ihr hinzog; sie liebte Michela nicht, und obwohl sie sie suchte und ihr gerne zuhörte, behandelte sie sie mit Geringschätzung.
Michela war sehr sensibel, ihr Instinkt lehrte sie mehr als ihr Verstand. Sie fühlte die Abneigung Paskas und die Geringschätzung Gavinas und hing sich dennoch mit fast krankhafter Leidenschaft an diese. Solange die Magd bei ihnen war, redete sie nur obenhin von sich und erzählte, was sie den Tag über getan hatte. Sie war mit dem Morgengrauen aufgestanden und zur Kirche gegangen, hatte gebeichtet und kommuniziert; und, wie sie jeden Sonnabend zu tun pflegte, hatte sie auch heute nur Brot und Wasser genossen und den ganzen Tag gearbeitet.
Als sie bei dem ein wenig unterhalb der Straße gelegenen Brunnen angelangt waren, stieg Paska hinab. Die beiden Mädchen lehnten an der Brüstung der Straße am Rande des weiten Tales, das jetzt im Mondlicht grau und schwarz dalag. Auf den Vorbergen gegenüber brannten große Feuer, die aus dem Gestein selbst aufzusteigen schienen. Um den Boden dort urbar zu machen, brannten die Bauern das Buschwerk ab; manchmal standen weite Strecken in Flammen, und an dunkeln Abenden warfen diese einen Glutschein über das Tal, so rot wie der Mond vor dem Untergang.
Durch den stillen Abend hörten die Mädchen das Rauschen des Brunnens und die Stimmen der Wasser holenden Frauen, bei denen auch Paska plaudernd verweilte.
»Höre Gavina, ich muß dir etwas sagen!« sagte Michela leise und beklommen. »Schwöre aber, daß du mir glaubst.«
»Ich glaube dir! Es ist nicht nötig zu schwören«, entgegnete Gavina stolz.
Sie dachte, Michela wolle ihr ein süßes und quälendes Geheimnis anvertrauen, dem gleich, das sie selbst hegte; das aber, was die Freundin ihr nun sagte, erfüllte sie mit Staunen und Neid.
»Höre! Ich habe den heiligen Ludwig gesehen. O, du glaubst es nicht? Doch, doch, du glaubst es! Diesmal ist es wirklich wahr und nicht wie damals, als ich zu sehen meinte, wie die Madonna im Schnee auf unserem Bildchen die Augen auf- und zumachte. Diesmal ist es wahr!«
»Gott! O Gott!« seufzte Gavina und preßte den Arm Michelas. Beide zitterten, als ob von einem Augenblick zum andern und vor ihren Augen die Erscheinung sich wiederholen solle.
»Wie denn? Wie? Erzähle doch!«
»Ja, heut’ in der Dämmerung. Ich war müde und hatte mich auf einen Augenblick auf die Treppe gesetzt, die von unserm Hof aus nach dem oberen Stock führt. Es war beinahe dunkel, denn der Mond schien noch nicht in den Hof hinein. Auf einmal höre ich etwas wie einen Glockenton und sehe etwas wie das Leuchten eines Blitzes, und da ging der heilige Ludwig über den Hof. Er sah mich nicht an. Er blickte zu Boden und hatte ein Kreuz in der Hand.«
Gavina seufzte nochmals. – »Du bist glücklich, Michela! Du stehst bei Gott in Gnade!« sagte sie neidisch.
Sie hatte sich immer gewünscht, gleich Michela sehen zu können. And in diesem Wunsche barg sich ein Teil Eigenliebe; denn ohne sich dessen bewußt zu sein, hielt sie sich dieser Gnade für ebenso würdig wie Michela.
Die Erzählung von dieser Erscheinung des heiligen Ludwig hatte ihr einen solchen Eindruck gemacht, daß sie einen von Michela ihr angeratenen Versuch unternehmen wollte. Sie fastete und fing eine Spitze für ein Chorhemd ihres Onkels an. Bei der Arbeit betete sie und dachte beständig an den heiligen Ludwig, denn den jungen Heiligen mit den großen, reinen Augen zu sehen verlangte sie.
Doch der erste Versuch mißlang. Zu viele Dinge lenkten sie ab. Sie hörte Paskas Geplauder, die Fragen, die ihr Vater, vor der Haustür sitzend, an die Vorübergehenden richtete; sie konnte nicht umhin sich über den Bruder zu ärgern, der seine Tage bei Zia Itria verbrachte und nur dann und wann nach Hause kam, um leise wie ein Dieb in den Keller zu schleichen und zu trinken. Und am Abend gar sah sie Priamo, der sich nach ihr umkehrte.
Am zweiten Tage nahm sie das Arbeiten und Beten in ihrem Zimmer vor, an dem nach dem stillen Garten gehenden Fenster sitzend. Aber um die Zeit, wo der Seminarist zum Kanonikus Sulis zu gehen pflegte, fühlte sie sich versucht an das andere Fenster zu treten. Dieses Verlangen, das ihr an jenem Tage sündhafter erschien als je, drängte sie zwar zurück, doch wenn sie an den Heiligen dachte, so sah sie ihn mit blassem Gesicht, die schmachtenden Augen fest auf die ihren gerichtet, und die Stirne von einem Kranz von schwarzen Haaren umgeben: er sah aus wie Priamo! Der Sonnenuntergang färbte die Berge rot, Dämmerung senkte sich über den Garten: die Erscheinung kam nicht.
Das dritte Mal, am Tage vor dem Feste der Madonna im Schnee genoß Gavina nur Wasser und Brot und arbeitete bis zum späten Abend, bis den malvenfarbenen Himmel über den Domplatz einfallende Goldstrahlen streiften. Aber die Erscheinung kam nicht, und Gavina weinte vor Kummer und vor Sehnsucht.
Am folgenden Tage war das hohe Kirchenfest. Schon am frühen Morgen kamen mehrere Freunde Herrn Sulis’ zu Gast, darunter eine Dame aus einem Dorf im Gebirge. Es war eine Hochgewachsene, stattliche Frau, in schwarz und gelb gekleidet, mit weitem Rock und Schneppenmieder, wie eine Dame des Seicento. Gavina begleitete sie zur Kirche und kniete neben ihr, zwischen zwei alten Hirten, die einen unangenehmen Stallgeruch verbreiteten.
Die Kirche war gedrängt voll. Die elegantesten jungen Damen saßen auf ihren zierlichen Klappstühlchen dicht unter der Kanzel beisammen; einige von ihnen scheuten sich nicht, sich nach den jungen Leuten umzusehen, die sich vor der Taufkapelle aufgestellt hatten, und sogar mit ihnen Blicke zu tauschen. Gavina blickte auf sie als auf die vornehmsten und verderbtesten Geschöpfe der Welt.
Auf einmal öffnete sich das Hauptportal der Kathedrale; und in einem Strom von Licht schritt der von Gold strotzende Bischof herein, zwischen den Domherren in rotseidenen Mäntelchen und den Seminaristen in spitzenbesetztem Meßhemd und blauen Bändern um den Hals. Zwei von ihnen trugen die gleißende Schleppe des Bischofs – und der eine war bleich und schön wie ein Engel, und die herabfallenden weiten Ärmel seines Meßhemdes sahen aus wie zusammengelegte müde Flügel. Als der Zug dicht an den Bänken vorüberkam, begegneten die trüben Augen des müden Engels den Augen Gavinas.
Die Seminaristen nahmen auf dem Chore Platz. Nachdem Priamo die bischöfliche Schleppe niedergelegt hatte, dachte er an nichts anderes mehr, als Gavina mit den Blicken zu suchen. Es war, als ob er in der von Licht und Farben strahlenden Kirche nichts anderes sähe als sie. Und sie fühlte ihre Kraft schwinden unter jenem Blick; sie selbst erschien sich verderbter als jene Mädchen, die nach den jungen Leuten blickten, und sie hätte weinen mögen vor Liebe und Gewissenspein.
Am Nachmittag begleitete sie die Dame bei einigen Besuchen. Zuletzt gingen sie zum Kanonikus Bellia, einem Landsmann der Dame.
Er wohnte in einem Häuschen außerhalb des Ortes mit einer alten Verwandten, die so naiv und einfach war wie ein Kind. Gavina, die außerhalb des Beichtstuhls eine große Scheu und eine fast geheimnisvolle Furcht vor ihrem strengen Beichtvater hatte, saß in einer Ecke des Besuchzimmers, das wie eine Kapelle aussah, und verhielt sich so stumm und steif, als wäre sie eine der hundert Heiligenfiguren um sie her. Die Frauen plauderten harmlos und liebenswürdig; der Kanonikus Bellia, eine hohe, gebeugte Gestalt mit olivenfarbigem, tief