Der Herbst war schon weit vorgeschritten, und das Leben im Sulisschen Hause wurde, wie die Jahreszeit, immer trüber. Solange die Herbstsonne noch den Garten beschien, fiel wenigstens ihr Widerschein in die melancholischen Zimmer; nachher aber war alles Schatten und Trostlosigkeit.
Die Witwe und Paska redeten beständig von dem teuren Verstorbenen, und am Tage Allerseelen weinten sie, als wäre er soeben erst gestorben. Und gerade an diesem Tage betraf Gavina von neuem Luca am Speiseschrank. Er hätte ungehindert trinken können – doch es war, als habe er immer noch Furcht vor dem Vater.
Gavina dachte, es sei zwecklos, sich an die Mutter zu wenden; und wie früher schon trat sie vor Luca hin und betrachtete ihn mit zornigem Blick. »Schäme dich! Geh! Sogleich, oder du kriegst es mit mir zu tun! Heute willst du dich betrinken, wirklich heute? So ehrst du das Andenken unseres Vaters? Ich werde dich noch aus dem Hause treiben . . .«
»Du Esel! Ist das Haus dein?«
»Ja, es ist mein, es ist mein! Merk’ es dir wohl, von jetzt an will ich hier die Herrin sein! Denk’ daran . . .«
»Unsere Mutter ist die Herrin. Du hast versprochen . . .«
»Und du, was hast du versprochen, du Elender?« entgegnete sie und drohte ihm mit den Fäusten. »Hast du versprochen, dich und uns zu ruinieren? Ich werde das nicht zulassen, verstehst du, ich werde es nicht zulassen, nie, nie! Eher will ich dich zu Tode ärgern, dich aus dem Hause treiben. Hast du verstanden? Geh’ weg, jetzt! Hörst du nicht, wie die arme Mutter weint, hörst du das nicht?«
In der Tat hörte man Signora Zoseppa in der Küche schluchzen. Luca wich zurück, schwieg und schien betroffen von dem Schmerz der Mutter. Eine Zeit lang verhielt er sich vernünftig, es war, als habe er gute Vorsätze gefaßt. Gavina indes traute dem Frieden nicht und eines Tages hörte sie, wie Luca zu Paska sagte: »Ihr alle quält mich und wollt mich schulmeistern wie ein Kind; aber die Zeit wird kommen, wo ihr mich als Herrn respektieren sollt. Wenn mir ein Plan gelingt, dann werde ich in einer Woche mehr verdienen als du in vierzig Jahren verdient hast.«
»Und Gott gebe es dir!« erwiderte jene überzeugt. »Das Geschick dazu hast du ja, wenn du nur auch den guten Willen hättest!«
Doch die Tage vergingen, und er brachte seinen Plan nicht zur Ausführung. Am Feuer hockend wie ein altes Weib, begnügte er sich damit, über Paska und den Knecht zu räsonieren.
Zu Anfang Dezember machte einmal der Kanonikus Felix mit seinem Neffen der Witwe Sulis einen Besuch, und der erstere sagte mit seinem gewohnten stillen Lächeln: »Ach, heute habe ich nicht eine Dame mit dem Fächer gesehen.«
Priamo blickte mit trüben Augen um sich; aber Gavina erschien nicht, und er tat während der ganzen Dauer des Besuchs nicht den Mund auf.
Der Winter kam mit seinen stürmischen Winden, seinen leisen Schneefällen. Die Berge waren ganz mit Schnee bedeckt, und auch die fernsten schienen nah und hoben sich weiß vom klaren blauen Himmel ab, oder traten nur undeutlich zwischen Wolkenungetümen hervor. Manchen Abend ging der Mond so kalt und klar über den beschneiten Spitzen auf, wie wenn er lange Zeit im Schnee begraben gewesen wäre; und die ganze Landschaft erschien alsdann so marmorstarr, als sollte sie ewig so bleiben.
Bevor sie sich zur Ruhe begab, trat Gavina regelmäßig an das Fenster und dachte an den toten Vater, den es wohl fror dort auf dem kleinen Friedhof am Berghang; dann überfiel sie tiefe Traurigkeit, bis sie über ihren Gedanken an den Tod und an Gott allmählich wieder in Verzückung geriet und ganz zufrieden war zu leiden: ihre Seele war wie der Widerschein der kalten und trostlosen Reinheit der Winternacht.
Als aber der Frühling kam, wurden die Fenster wieder geöffnet, und Gavina konnte das Haus verlassen. Sie ging in die Kirche, sie beichtete und sprach dem Kanonikus Bellia ihren Wunsch aus, Nonne zu werden. Doch zu ihrer großen Verwunderung riet er ihr ab, und machte es ihr zur Pflicht, bei ihrer Mutter zu bleiben. »Welches Kloster wäre besser als euer Haus? Geht in Frieden, meine Tochter, und denkt nicht mehr an dergleichen!«
Hätte nicht Luca immer wieder Anlaß zum Verdruß gegeben, so wäre ihr Haus in Wahrheit so ruhig wie ein Kloster gewesen. Die Welt war so fern! Auch Priamo hatte es aufgegeben, wieder und wieder vorüberzugehen und Michela um ihre Vermittlung bei der Freundin zu bitten.
Nachrichten aus der weiten Welt erfuhr Gavina nur von Zeit zu Zeit aus alten Nummern der »Unità Cattolica«, die der Onkel ihr gelegentlich hereinreichte. Andere Zeitungen oder gar Romane bekam sie nicht zu Gesicht; und gerade deshalb haftete jedes Wort der orthodoxen Zeitung in ihrem Gedächtnis wie auf einem weißen Blatt. Bis zu ihrem zwanzigsten Jahr sah sie die Welt nur durch die Spalten der »Unità Cattolica« hindurch und alles erschien ihr gleichsam in einem schwarzen Rahmen; sie glaubte, jeder gute Christ müsse sich darum grämen, daß Rom nicht mehr dem Papst gehörte. Die Gestalten der italienischen Renaissance erschienen ihr klein und böse, und sie lernte die Dichter verachten, die das Leben priesen, und die Schriftsteller hassen, die nicht an Gott glaubten!
Mit zwanzig Jahren las sie Chateaubriand und einige Bände der Weltgeschichte von Cesare Cantù. Und mit diesen Kenntnissen ausgestattet, hielt sie sich für die gebildetste und einsichtsvollste junge Dame der Stadt.
Am Karfreitagabend, sechs Monate nach dem Tode ihres Vaters, ging Gavina mit Michela zur Predigt. Dies Jahr war der Fastenprediger ein junger, sehr schöner Priester; auf der Kanzel jedoch wurde er furchtbar und richtete nur stammende Worte, Drohungen, ja Kränkungen an die erschrockenen Gläubigen. Die Frauen weinten und schlugen sich an die Brust; die Studenten, die er mit Schmähreden bedachte, die für eine Schar von Teufeln bestimmt schienen, lachten, murrten und rächten sich dadurch, daß sie nach Beendigung der Predigt sich der Prozession anschlossen, sich unter die Menge mischten und Lärm machten.
Es war ein milder Aprilabend: draußen lag der letzte Dämmerschein, und am Himmel stand die zarte Sichel des neuen Mondes. Über der dunkeln Menge, die langsam die absteigende Straße zum Seminar hinunterzog, schwebte, auf der Suche nach ihrem toten Sohne, die Madonna mit den sieben funkelnden Schwertern in der Brust und einem Gesicht so blaß wie das des Mondes. Die Menge murmelte eine traurige und seltsame Weise, die wie das Summen eines Bienenschwarmes klang, der in der Stille des Abends unversehens ausgeflogen wäre.
Gavina ging in einer Gruppe von jungen Mädchen einher, die nicht alle mystisch veranlagt waren wie sie, und die sich von den dreisten Studenten beschauen, ja selbst anrühren ließen; plötzlich hörte sie wie jemand ihr ins Ohr raunte:
Oh, dolce, nella tiepida
Sera d’april vagare
Al fianco tuo . . . Gavina . . .5
Wild vor Zorn kehrte sie sich um: »Lassen Sie das sein, Sie Dummkopf!«
Ihre blitzenden Augen waren den klugen und lustigen des Mieters Michelas begegnet, der, statt Gavinas Zurechtweisung übelzunehmen, ihr zulächelte. Er war wie berauscht: trunken von Freude, von Poesie, von Jugend. Sie zankte mit Michela, als ob diese Unrecht daran täte, einen so unverschämten, frechen Burschen in ihrem Hause zu dulden.
Michela verteidigte sich und verteidigte ihren Mieter: »Er wird einmal ein großer Mann werden, vielleicht ein Abgeordneter. Seine Lehrer sagen, sie hätten noch nie einen so begabten Schüler gehabt . . . Und er macht sogar Gedichte!«
»Auch Zio Sorighe ist ein Dichter!« sagte Gavina verächtlich.
Und von jenem Abend an zankten die