Der Herr Kanzleioffizial schlief nicht gut in der folgenden Sommernacht. Wahrscheinlich weil sie zu lau war.
Die Träume fielen auf ihn nieder wie gewichtige Eisentüren.
Obwohl Herr Blümel, wie an jedem Abend, seine gymnastischen Entspannungsübungen gewissenhaft ausgeführt hatte. Auch nur mit einer leichten Decke hygienisch bedeckt war. Die Fenster waren selbstverständlich weit geöffnet.
Hatte er sich aus den schweren Träumen ins Wachsein gerettet, quälte ihn die Primzahl elf auf folternde Art. Er wünschte sie mit Gewalt aufzuteilen, begnügte sich endlich damit, sie zu addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren. Sie sauste in seinem Kopfe umher, wie wenn sich eine Mücke in seinen festverschlossenen Schädel Eingang zu verschaffen gewußt.
Der Grund zu dieser Qual blieb Herrn Josef Blümel unerklärlich.
Erst als es hell wurde, klärte sich auch in dem Herrn Kanzleioffizial das Bewußtsein.
Er sagte sich, daß diese ganze nächtliche Verdrießlichkeit nur zurückzuführen sein könne auf seine törichte Mitteilsamkeit gegenüber jener fremden jungen Dame.
Nicht nur, daß diese Schwatzhaftigkeit einer Verabredung glich, sie war obendrein eine Lüge, zumindest eine Voreiligkeit.
Herr Josef Blümel spazierte nie um elf Uhr durch die Kärntner Straße, weder auf der schattigen Seite, noch auf der sonnigen. Aus dem einfachen Grund, weil seine Bürozeit bis zwölf Uhr dauerte.
Der Herr Kanzleioffizial hielt es für notwendig, dafür zu sorgen, daß er sich nicht selbst Lügen gestraft hatte. Wozu selbst vor Gericht niemand gezwungen werden kann.
In dieser schwülen Urlaubszeit der Vorgesetzten würde es wahrscheinlich von niemandem bemerkt werden, wenn Herr Josef Blümel seinen Bürokittel etwas früher an den Nagel hängen würde. Etwa fünf Minuten vor elf Uhr.
Diese Vermutung war kein Irrtum gewesen. Schon am Nachmittag wußte dies Herr Josef Blümel.
Er hatte sich wirklich nicht Lügen strafen lassen um einer Frau willen. Er hatte seinen Bürokittel fünf Minuten vor elf an den Nagel gehängt. Es hatte niemand bemerkt. Der Herr Kanzleioffizial war die Kärntner Straße entlang gegangen, auf der Schattenseite.
Nicht nur einmal. Was Josef Blümel unternahm, führte er gründlich aus. Er war viele dutzendmal die belebte Straße entlang spaziert. Bekannten war er nicht begegnet. Auch nicht der flüchtigsten Bekanntschaft.
Am nächsten Tag fühlte sich Herr Blümel verpflichtet, seine Vermutung noch einmal auf die Probe zu stellen. Wieder wurde sein frühes Fortgehen von niemand beachtet.
Je pflichttreuer man ist, um so rascher siegt Gewohnheit. Am dritten Tag schon glaubte Herr Blümel diesen kleinen Extraweg nicht mehr entbehren zu können und deutlich zu bemerken, daß schon sein Bürokittel unruhig wurde nach dem Nagel an der Wand.
Der Herr Kanzleioffizial kam zu der Auffassung, diese selbstverordnete Ferienstunde als eine Art Badereise hinzunehmen. Eine Sommerfrische billig und bekömmlich. Wahrscheinlich hatte hier der Selbsterhaltungstrieb sein Recht verlangt.
Nach einer Woche jedoch gab es eines Tages keine Schattenseite mehr auf der Kärntner Straße. Es regnete.
Nach reiflicher Überlegung kam Herr Blümel zu dem Ergebnis, daß dieses Naturereignis nur so aufgefaßt werden könne, als daß der Straße zwei Schattenseiten zugeschrieben werden müßten.
Herr Blümel ging also die Straße abwechselnd links und rechts hinunter, wieder hinauf und hin und her.
Niemand begegnete ihm, mit dem ein Gruß auszutauschen gewesen wäre.
Regenwetter wirkt niederschlagend aufs Gemüt. Herr Blümel wenigstens erklärte es sich damit, daß er sich heute über mancherlei ärgerte. Es hatte wirklich den Anschein, wie wenn nur die Dummen Glück hätten. Überall sah er junge Gecken Grüße und Scherze tauschen, Handküsse geben.
Dabei glaubte Herr Blümel nicht einmal an das Sprichwort. Es konnte unmöglich soviel Glück im Weltall aufzutreiben sein, wie nötig gewesen wäre, um alle Dummheit zu belohnen.
Gerad im Augenblick dieser Feststellung, streng und präzis, streckte ihm das blonde Fräulein Konstanze die Hand zur Begrüßung entgegen.
Herr Josef Blümel machte viele Worte, um zu beweisen, daß hier Zufall wunderliches Spiel getrieben.
Die Berlinerin nahm diesen Augenblick natürlicher auf.
Sie bekannte, darin einen Beweis dafür zu sehen, daß sich Ausdauer belohne. Sie habe den Herrn von der blauen Donau jeden Mittag zu treffen versucht. Sie hätte angenommen, daß eine Persönlichkeit wie der Herr Kanzleioffizial, ernsthaft, verläßlich auf den ersten Blick, nicht ohne Ursache mitteilte, daß er täglich diese Straße durchwandre, auf der Sonnenseite.
Josef Blümel lächelte. Seinetwegen hatte sich das schöne Mädchen, groß, blond, selbständig, der heißen Sonnenglut ausgesetzt.
Gleichzeitig stieg Verdruß in ihm auf. Diese Mädchen! Selbst die selbständigsten waren imstande, Sonne und Schatten zu verwechseln. Nicht die wichtigsten Bemerkungen konnten sie im Kopf behalten.
Herr Blümel vermochte nicht zu verhindern, daß sich Strenge in seine Stimme mischte, als er bemerkte, daß er von der Schattenseite gesprochen hätte. In praller Sonne zu gehen, hielt er für ungesund, sowohl für die Haut, als für das Hirn.
Konstanze meinte, das könne doch nicht Herrn Blümels Ernst sein? Der lieben Sonne aus dem Weg gehen zu wollen? Es gäbe doch nur eine Sonne, aber so viele Wolken.
Solche Sprüche, die Poesie und praktische Lebensführung in Gegensatz brachten, liebte Herr Blümel nicht.
Er antwortete, daß scharfes Sonnenlicht Kleider und Anzüge verbleichen lasse und somit entwerte.
Indessen schritt man nebeneinander dem Stefansdom zu. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Wie man nur spazierengehen kann in einer Großstadt, deren Verkehrspuls ein Promenadenring ist.
Herr Blümel stellte fest, daß das blonde Fräulein diesen Wiener Schritt vortrefflich einzuhalten verstand, gemächlich und doch nicht langweilig. Geübter Walzertakt hätte man ihn nennen können.
Konstanze prüfte ebenfalls. Sie dachte: Langweilig aber praktisch. Der geborene Ehemann. Daher seine Feigheit vor der Ehe. Armer Kerl.
Ganz von ungefähr kam ihr in den Sinn, welches Kopfzerbrechen ihr die Buchführung bereitete. Solcher Kanzleioffizial würde sich solchen Geschäftsbüchern sicherlich mit Vergnügen widmen, in Feierstunden.
Auch in Wien würde sich ein Handschuhladen führen lassen.
Zufällig hatte Konstanze solchem Luftschloß schon in die Fenster geguckt.
Es gab am »Graben« ein Fräulein Steffi Pichler, die mit Freuden bereit gewesen wäre, ihr flottes Handschuhgeschäft einzutauschen gegen ein ähnliches in der Reichshauptstadt.
Sie stellte sich Berlin als Paradies der Lebenslust vor. Großstadt, wie sie sein sollte. In der man überhaupt nur Trab lief. Wien spielte doch nur Großstadt. Im Grunde hielt man hier jeden, der Eile hatte, für einen Trottel. Steffi aber wollte mitten hinein in den Trubel, Strudel, Knudel, wo man nichts anderes mehr kannte als Jagen, Hetzen, Vorwärts. Sie war Braut eines Kunstfahrers auf Motor. Dessen Lebensparole war: verbotenes Schnelltempo. Rattatata. Außerdem hatte er Stellung in Berlin angenommen …
Konstanze dagegen glaubte Gemächlichkeit verlockend zu finden. Sanfte Spaziergänge entlang der Donau, hinauf zum Kahlenberg, Ausflüge in den Wiener Wald, mit einem Picknickkörbchen, das möglicherweise von einem Ehemann getragen wurde, in rechtschaffenem Stolz …
Konstanzes nachdenkliche Schweigsamkeit beunruhigte Herrn Josef Blümel. Er beeilte sich, ein Gespräch in Gang zu bringen, das sich um Musik drehte. Morgen würde wahrscheinlich der Himmel wieder blau sein. Dann sollte niemand versäumen, in den Schönbrunner Park zu gehen, wo Walzer gespielt würden, von Lanner und von Johann Strauß.
Konstanze antwortete