Das erste Ziel von Gabriel war erreicht. Er war nun kein Kind mehr, sondern ein Mann, der schon seine Proben abgelegt, und mit dem man rechnen mußte; dem Glanz, der ihm von seinen Ahnen zukam, hatte er einen Ruhm der ihm persönlich war, beizugesellen gewußt. Allein und ohne eine andere Unterstützung, als die seines Muthes, war er mit vierundzwanzig Jahren zu einem hohen Grade gelangt. Er konnte sich endlich stolz derjenigen, welche ihn liebte, und denen, welche er hassen mußte, bieten. Diese zu erkennen, dazu vermöchte ihm Aloyse behilflich zu sein; jene hatte ihn erkannt.
Gabriel entschlummerte mit zufriedenem Herzen.
Am anderen Tage sollte er sich bei Herrn von Boisy, dem Oberstallmeister von Frankreich, einfinden, um seine Adelsproben zu übergeben. Herr von Boisy, ein redlicher Mann, war der Freund des Grafen von Montgommery gewesen. Er begriff die Gründe von Gabriel, einen wahren Titel verborgen zu halten, und verpfändete sein Ehrenwort, das Geheimniß zu bewahren. Hierauf stellte ihn der Herr Marschall d’Amville seiner Compagnie vor. Gabriel fing unmittelbar seinen Dienst damit an, daß er die Staatsgefängnisse von Paris besuchte und inspizierte, ein peinlicher Auftrag, der einmal in jedem Monat von ihm zu versehen war.
Er begann mit der Bastille und endigte mit dem Chatelet.
Der Gouverneur übergab ihm die Liste seiner Gefangenen, nannte ihm diejenigen, welche gestorben, krank, versetzt oder freigelassen waren, und ließ sie dann vor ihm die Revue passieren, eine traurige Revue, ein düsteres Schauspiel. Er glaubte geendigt zu haben, als ihm der Gouverneur des Chatelet in seinem Register eine beinahe weiße Seite zeigte, welche nur folgende seltsame, für Gabriel sehr auffallende Note enthielt.
Nro. 21. X . . . Gefangener in geheimem Gewahrsam. Versucht er es nur, bei dem Besuch des Gouverneur oder des Kapitäns der Leibwachen zu sprechen, so hat man ihn in einen tieferen, härteren, Kerker zu bringen.
»Wer ist dieser so wichtige Gefangene? Darf man es wissen?« fragte Gabriel Herrn von Salvoison, den Gouverneur des Chatelet.
»Niemand weiß es,« antwortete der Gouverneur, »ich habe ihn von meinem Vorgänger übernommen, wie dieser ihn von dem seinigen übernommen hat. Ihr seht auf dem Register, daß das Datum seines Eintrittes weiß gelassen ist. Man muß ihn unter der Regierung von Franz I. gebracht haben. Zwei- oder dreimal hat er es, wie man mir sagt, versucht, zu sprechen. Doch beim ersten Wort muß der Gouverneur, bei den schwersten Strafen, die Thüre seines Gefängnisses schließen und ihn in einen härteren Kerker bringen lassen, was auch geschehen ist. Es ist nun nur noch ein Kerker übrig, der schrecklicher wäre, als der seinige, und dieser Kerker wäre der Tod. Man wollte es wahrscheinlich dahin kommen lassen, doch der Gefangene schweigt jetzt. Ohne Zweifel ist es ein furchtbarer Verbrecher. Er bleibt beständig gefesselt, und um sogar der Möglichkeit einer Entweichung zuvor zukommen, geht sein Schließer jede Minute in sein Gefängniß.«
»Doch er hat mit dem Schließer gesprochen?« sagte Gabriel.
»Oh! man hat einen Taubstummen für ihn genommen, der im Chatelet geboren ist und dieses nie verlassen hat.«
Gabriel schauerte. Dieser so völlig von der Welt der Lebenden getrennte Mensch, der jedoch lebte und dachte, flößte ihm ein Mitleid ein, das mit einem gewissen Abscheu gemischt war. Welcher Gedanke oder welcher Gewissensbiß welche Furcht vor der Hölle oder welches Vertrauen zum Himmel konnten ein so unglückliches Wesen abhalten, sich die Hirnschale an den Mauern seines Kerkers zu zerschmettern? War es eine Hoffnung oder eine Rache, was ihn noch an das Leben kettete?
Gabriel empfand eine Art von unruhiger Begierde, diesen Menschen zu sehen; sein Herz schlug, wie es bis jetzt nur in den Augenblicken geschlagen hatte, wo er Diana wiedersehen sollte. Er hatte hundert Gefangene mit einem alltäglichen Mitleid besucht. Doch dieser zog ihn an und rührte ihn mehr als alle Andere, und die Angst schnürte ihm seine Brust zusammen, indem er an dieses grabartige Dasein dachte.
»Gehen wir in Nro. 21,« sprach er mit seltsam bewegtem Tone zu dem Gouverneur.
Sie stiegen mehrere schwarze, feuchte Treppen hinab und durchschritten verschiedene Gewölbe, den gräßlichen Spiralen der Hölle von Dante ähnlich. Dann blieb der Gouverneur vor einer eisernen Thüre stehen und sprach:
»Es ist hier. Ich sehe den Wächter nicht, ohne Zweifel ist er im Gefängniß; doch ich habe doppelte Schlüssel. Treten wir ein.«
Er öffnete in der That, und sie traten beim Schimmer einer Laterne, welche ein Schließer in der Hand hielt, ein.
Gabriel sah nun ein schweigsames, furchtbares Gemälde, wie man es nur beim Alpdrücken des Deliriums sieht.
Als Wände überall Stein, schwarzer, moosiger, übelriechender Stein; denn dieser finstere Ort war tiefer ausgehöhlt als das Bett der Seine, und das Wasser erfüllte ihn halb bei größerem Steigen. Auf diesen dunkeln Wänden krochen klebrige Thiere; die eisige Luft wiederhallte von keinem Geräusch, wenn nicht von dem eines Wassertropfens, der regelmäßig und dumpf von dem häßlichen Gewölbe herabfiel.
Etwas weniger als dieser Wassertropfen, etwas mehr als diese unbeweglichen Schnecken lebten hier zwei menschliche Geschöpfe, das eine das andere bewachend, Beide düster und stumm.
Der Schließer, eine Art von Simpel, ein Riese mit dummem Auge und bleicher Gesichtsfarbe stand im Schatten und betrachtete mit albernem Blick den Gefangenen, der in einer Ecke, die Hände und die Füße mit einer in die Mauer genieteten Kette gefesselt, auf einem elenden Strohlager ausgestreckt lag. Es war ein Greis mit weißem Bart und weißen Haaren. Als man eintrat, schien er zu schlafen und rührte sich nicht; man hatte ihn für einen Leichnam oder für eine Bildsäule halten können. Doch plötzlich setzte er sich auf, öffnete die Augen, und sein Blick heftete sich auf den Blick von Gabriel.
Es war ihm verboten, zu sprechen; doch dieser furchtbare und zugleich herrliche Blick sprach. Gabriel war bezaubert davon. Der Gouverneur untersuchte mit dem Schließer alle Winkel des Kerkers. Wie an den Boden genagelt, rührte sich Gabriel nicht von der Stelle; er blieb ganz niedergeschmettert durch diese Flammenaugen und konnte sich nicht davon losmachen, während sich zu gleicher Zeit eine ganze Welt seltsame unaussprechlicher Gedanken in ihm regte.
Der Gefangene schien seinen Besuch ebenfalls nicht gleichgültig zu betrachten, und es gab einen Augenblick, wo er eine Gebärde machte und den Mund öffnete, als wollte er reden; doch der Gouverneur hatte sich umgewendet, er erinnerte sich zu rechter Zeit des Gesetzes, das ihm vorgeschrieben war, und seine Lippen sprachen nur durch ein bitteres Lächeln. Er schloß dann die Augen wieder und versank in seine steinerne Unbeweglichkeit.
»Oh! gehen wir von hier weg,« sprach Gabriel zum Gouverneur. »Ich bitte, gehen wir weg, ich muß Luft einathmen und die Sonne sehen.«
Er erlangte in der That seine Ruhe und so zu sagen sein Leben erst wieder, als er sich auf der Straße, mitten unter dem Geräusch der Menge fand. Auch da war die düstere Erscheinung noch in seinem Innern, und sie verfolgte ihn den ganzen Tag, während er nachdenkend die Grève entlang ging.
Irgend ein Etwas sagte ihm, das Schicksal dieses unglücklichen Gefangenen stehe mit dem seinigen in Berührung und er sei an einem großen Ereigniß seines Lebens hingegangen. Ermüdet endlich durch diese geheimnißvollen Ahnungen, wandte er sich, als der Abend herannahte, den Tournelles zu. Die Turniere des Tages, an denen Gabriel nicht hatte Theil nehmen wollen, endigten sich. Gabriel konnte Diana erschauen und wurde von ihr erschaut, und dieser doppelte Blick zerstreute den Schatten aus seinem Herzen, wie ein Sonnenstrahl die Wolken zerstreut. Gabriel vergaß den düsteren Gefangenen den er am Tage gesehen, um nur noch an die blendende Jungfrau zu denken, die er am Abend sehen sollte.
X.
Elegie während der Komödie
Es war ein Herkommen aus der Zeit der Regierung von Franz I. Wenigstens dreimal in der Woche versammelten sich der König, die Herren und alle Damen des Hofes am Abend im Gemach der Königin. Hier unterhielt man sich über die Ereignisse des Tages mit aller Freiheit, zuweilen auch mit aller Ausschweifung. Während des allgemeinen Gespräches bildeten sich Privatunterredungen und, »da sich hier eine Truppe menschlicher Göttinnen fand,« sagt Brantôme, »so unterhielt jeder der hohen Herren und jeder Edelmann diejenige, welche