Die junge Frau stürzte in den Hof; ein Wagen erwartete sie hier, ein Bedienter hielt den Schlag des Wagens offen.
Sie stieg rasch ein und setzte sich.
Doch ehe man den Schlag wieder geschlossen hatte, war Sebastian zwischen den Bedienten und diesen Schlag geschlüpft; er ergriff das Untertheil des Kleides der Flüchtigen, küßte es voll Leidenschaft und rief:
»Oh! Madame! oh! Madame!«
Die junge Frau schaute nun den reizenden Knaben an, der sie Anfangs erschreckt hatte, und mit einer Stimme sanfter, als sie gewöhnlich war, obgleich diese Stimme noch eine Mischung von Aufregung und Furcht beibehalten hatte, sagte sie:
»Nun! mein Freund, warum laufen Sie mir nach? warum rufen Sie mich? was wollen Sie von mir?«
»Ich will Sie sehen,« antwortete das Kind ganz keuchend, »ich will Sie küssen.«
Und leise genug, daß es nur die junge Frau hören konnte fügte er bei:
»Ich will Sie meine Mutter nennen.«
Die junge Frau stieß einen Schrei aus, nahm den Kopf des Kindes in ihre beiden Hände, zog ihn, wie durch eine plötzliche Eingebung bewogen, rasch an sich und drückte ihre glühenden Lippen aus seine Stirne.
Dann, als befürchtete sie, es könnte Jemand kommen und ihr den Knaben nehmen, den sie soeben wiedergefunden, hob sie ihn zu sich empor, bis er ganz im Wagen war, schob ihn auf die entgegengesetzte Seite, schloß selbst den Schlag, ließ das Fenster nieder, das sie sogleich wieder aufzog, und sagte:
»Zu mir, Rue Coq-Héron Nr. 9, am ersten Thorweg von der Rue Platrière aus.«
Und sie wandte sich gegen das Kind um und fragte:
»Dein Name?«
»Sebastian.«
»Ah! komm, Sebastian, komm hierher . . .hierher, an mein Herz!l«
Dann warf sie sich zurück, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, und murmelte:
»Oh! was für eine unbekannte Empfindung ist denn das? Sollte es das sein, was man das Glück nennt?«
X
Der Pavillon von Andrée
Der Weg war nur ein zwischen der Mutter und dem Sohne ausgetauschter langer Kuß.
Der Pavillon von Andrée.
Also dieser Knabe, – ihr Herz zweifelte nicht einen Augenblick, daß er es sei, – dieser Knabe, der ihr in einer erschrecklichen Nacht, in einer Nacht der Bangigkeiten und der Schande geraubt worden war; dieser Knabe, der verschwunden war, ohne daß der Räuber eine andere Spur, als die seiner Fußstapfen im Schnee zurückließ; dieser Knabe, den sie Anfangs gehaßt, verflucht, so lange sie nicht seinen ersten Schrei gehört, sein erstes Wimmern aufgefaßt hatte; dieser Knabe, den sie gerufen, gesucht, zurückverlangt, den ihr Bruder in der Person von Gilbert bis auf den Ocean verfolgt hatte; dieser Knabe, den sie fünfzehn Jahre beklagt hatte, welchen je wiederzusehen sie verzweifelt war, an den sie nur noch dachte, wie man an einen geliebten Todten, an einen theuren Schatten denkt; dieser Knabe findet sich da, wo sie ihn am wenigsten zu treffen erwarten durfte, plötzlich durch ein Wunder wieder, durch ein Wunder erkennt er sie, läuft er ihr nach, verfolgt sie, nennt sie seine Mutter! diesen Knaben hält sie an ihrem Herzen, drückt sie an ihre Brust! ohne sie je gesehen zu haben, liebt er sie mit einer kindlichen Liebe, wie sie ihn mit einer mütterlichen Liebe liebt! ihre, von jedem Kusse reine, Lippe findet alle Freuden ihres verlorenen Lebens in dem ersten Kusse wieder, den sie ihrem Kinde gibt!
Es gab also über dem Haupte der Menschen etwas mehr als den leeren Raum, in dem die Welten rollen; es gab also im Leben der Menschen etwas Anderes, als den Zufall und das Verhängniß.
»Rue Coq-Héron, Nr. 9, am ersten Thorweg von der Rue Plattiere aus,« hatte die Gräfin von Charny gesagt.
Seltsames Zusammentreffen, das nach Verlauf von vierzehn Jahren das Kind in dasselbe Haus zurückführte, wo es geboren worden, wo es den ersten Hauch des Lebens eingeathmet hatte, und wo es von seinem Vater geraubt worden war!
Dieses kleine Haus, einst vom alten Baron von Taverney erkauft, als mit der großen Gunst, mit der die Königin seine Familie beehrte, einiger Wohlstand in die Verhältnisse des Barons wiedergekehrt war, hatte Philipp von Taverney behalten, und es wurde von einem alten Concierge bewacht, den die ehemaligen Eigenthümer mit dem Hause verkauft zu haben schienen. Es diente als Absteigequartier für den jungen Mann, wenn er von seinen Reisen zurückkam, oder für die junge Frau, wenn sie in Paris übernachtete.
Nach der letzten Scene, welche Andrée mit der Königin gehabt nach der Nacht, die sie in ihrer Nähe zugebracht, hatte Andrée beschlossen, sich von dieser Nebenbuhlerin zu entfernen, welche ihr den Gegenschlag von jedem ihrer Schmerzen zusandte, und bei der die Mißgeschicke der Königin, so groß sie waren, immer noch unter den Herzensbeklemmungen und Befürchtungen der Frau waren.
Schon am Morgen hatte sie ihre Dienerin nach dem Hanse der Rue Coq-Héron mit dem Befehle geschickt, den Pavillon in Bereitschaft zu setzen, der, wie man sich erinnert, aus einem Vorzimmer, einem kleinen Speisezimmer, einem Salon und einem Schlafzimmer bestand.
Früher hatte Andrée, um Nicole neben sich unterzubringen, aus dem Salon ein zweites Schlafzimmer gemacht: doch seitdem diese Nothwendigkeit verschwunden, war jedes Zimmer seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben worden, und die Kammerfrau, welche den untern Theil ganz ihrer Gebieterin überließ, die übrigens selten und immer allein hierher kam, hatte sich zu einer kleinen, im Dache angebrachten Mansarde bequemt.
Andrée hatte sich also bei der Königin, daß sie das Zimmer in der Nähe des ihrigen nicht behalte, damit entschuldigt, daß die Königin, welche so enge wohne, mehr einer ihrer Kammerfrauen, als einer Person bedürfe, welche nicht speciell ihrem Dienste zugetheilt sei.
Die Königin hatte nicht daraus gedrungen, Andrée bei sich zu behalten, oder sie hatte wenigstens nur so weit die Schicklichkeit es erheischte, daraus gedrungen, und als Nachmittags gegen vier Uhr die Kammerfrau erschien und Andrée meldete, der Pavillon sei bereit, hatte sie ihr befohlen, auf der Stelle nach Versailles abzugehen und ihre Effecten, welche sie in der Hast der Abreise in der Wohnung, die sie im Schlosse inne gehabt, zurückgelassen, zusammenzupacken und ihr am andern Tage diese Effecten nach der Rue Coq-Héron zu bringen.
Um fünf Uhr halte die Gräfin von Charny dem zu Folge die Tuilerien verlassen, wobei sie als einen genügenden Abschied die paar Worte betrachtete, die sie am Morgen der Königin gesagt, da sie ihr die Verfügung über das Zimmer, welches sie eine Nacht inne gehabt, zurückgab.
Als sie aus dem Gemache der Königin, oder vielmehr aus dem an das Gemach der Königin anstoßenden Zimmer wegging, hatte sie den grünen Salon, wo Sebastian wartete, durchschritten, war sie, verfolgt von ihm, durch die Corridors geflohen, bis zu dem Augenblick, wo ihr Sebastian in den Fiacre nachgestürzt war, der, zum Voraus von der Kammerfrau bestellt, sie vor dem Thore der Tuilerien, im Prinzenhofe erwartete.
Alles trug so dazu bei, für Andrée aus diesem Abend einen glücklichen Abend zu machen, den nichts stören sollte. Statt in ihrer Wohnung in Versailles oder in ihrem Zimmer in den Tuilerien, wo sie dieses so wunderbar wiedergefundene Kind nicht hätte empfangen können, wo sie wenigstens sich nicht dem ganzen Ergusse ihrer mütterlichen Liebe hätte hingeben können, befand sie sich in einem ihr gehörigen Hause, in einem abgesonderten Pavillon, ohne Bedienten, ohne Kammerfrau, ohne einen fragenden Blick!
Sie gab auch mit einem Ausdruck tief gefühlter Freude die von uns oben erwähnte Adresse, welche den Stoff zu dieser ganzen Abschweifung geliefert hat.
Es schlug sechs Uhr, als sich der Thorweg auf den Ruf des Kutschers öffnete und der Fiacre vor der Thüre des Pavillon anhielt.
Andrée wartete nicht einmal, bis der Kutscher von seinem Bocke stieg; sie öffnete den Schlag und sprang, Sebastian nach sich ziehend, aus die erste Stufe der Freitreppe.
Dann gab sie geschwinde dem Kutscher ein Geldstück vom doppelten Werthe