Der Doktor war übrigens auf diese Weigerung gefaßt gewesen, sie überraschte ihn daher nicht. Er gehörte zu den großen Parteigängern der neuen Ideen, und da der erste Band vom Werke Lavaters erschienen war, so hatte er die physiognomische Lehre des Philosophen von Zürich schon auf das hagere gelbe Gesicht von Mademoiselle Angélique angewendet.
Aus dieser Untersuchung ergab sich für ihn folgendes: die kleinen, glühenden Augen der alten Mademoiselle, ihre lange Nase und ihre dünnen Lippen bieten die Vereinigung der Habgier, der Selbstsucht und der Heuchelei in einer Person.
Die Antwort erregte bei ihm, wie gesagt, nicht das geringste Erstaunen. Als Beobachter wollte er jedoch sehen, wie weit die Frömmlerin die Entwickelung dieser drei gemeinen Laster treiben würde.
»Aber Mademoiselle,« sagte er, »Ange Pitou ist ein armes Waisenkind, der Sohn Ihres Bruders, und Sie können, im Namen der Menschlichkeit, den Sohn Ihres Bruders nicht der öffentlichen Wohlthätigkeit überlassen.«
»Oh! hören Sie doch, Herr Gilbert,« erwiderte die alte Mademoiselle, »das ist eine Mehrausgabe von wenigstens sechs Sous täglich, und zwar noch gering gerechnet; denn dieser Junge muß mindestens ein Pfund Brot den Tag essen.«
Pitou schnitt ein Gesicht; er aß gewöhnlich anderthalb Pfund nur bei seinem Frühstück.
»Abgesehen von der Seife für seine Wäsche,« fuhr die Betschwester fort, »und ich erinnere mich, daß er erschrecklich verschmutzt.«
Pitou verschmutzte allerdings sehr, und das ist begreiflich, wenn man sich des Lebens erinnern will, das er führte; doch man mußte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: er zerriß noch viel mehr, als er verschmutzte.
»Ah!« sagte der Doktor, »pfui, Mademoiselle Angélique; Sie, die Sie so sehr die christliche Liebe üben, machen solche Berechnungen bei einem Neffen und Paten!«
»Abgesehen von der Unterhaltung der Kleider,« rief die alte Frömmlerin aus, die sich erinnerte, ihre Schwester Madeleine beständig mit Flickereien und Ausbesserungen an den Wämsern und Hosen ihres Neffen beschäftigt gesehen zu haben.
»Sie weigern sich also, Ihren Neffen zu sich zu nehmen?« sagte der Doktor; »von der Schwelle seiner Tante zurückgestoßen, wird die Waise genötigt sein, Almosen auf der Schwelle fremder Häuser zu fordern.«
So habgierig sie auch war, so begriff die Betschwester doch das Gehässige, das ganz natürlich auf sie zurückfallen müßte, wäre ihr Neffe, durch ihre Weigerung, ihn aufzunehmen, genötigt, diese Aeußerste zu ergreifen.
»Nein,« sagte sie, »ich behalte ihn bei mir.«
»Ah!« sprach der Doktor, »glücklich, ein gutes Gefühl in diesem Herzen zu finden, das er für vertrocknet hielt.«
»Ja,« fuhr die alte Mademoiselle fort, »ich werde ihn den Augustinern von Bourg-Fontaine empfehlen, und er wird bei ihnen als Laienbruder eintreten.«
Der Doktor war, wie gesagt, Philosoph. Man kennt den Wert des Wortes Philosoph in jener Zeit.
Er beschloß daher auf der Stelle, den Augustinern einen Neophyten zu entreißen, und zwar mit demselben Eifer, den die Augustiner ihrerseits angewandt hätten, den Philosophen einen Adepten zu entführen.
»Nun wohl!« sprach er, indem er die Hand an seine tiefe Tasche drückte, »da Sie in einer so schlimmen Lage sind, meine liebe Demoiselle Angélique, da Sie sich in Ermanglung eigener Mittel genötigt sehen, Ihren Neffen der Wohlthätigkeit anderer zu empfehlen, so werde ich jemand suchen, der wirksamer als Sie zum Unterhalt des armen verwaisten Knaben die Summe anzuwenden vermag, die ich für ihn bestimmt habe . . . Ich muß nach Amerika zurückkehren und werde vor meinem Abgang Ihren Neffen Pitou in die Lehre bei einem Tischler oder bei einem Stellmacher bringen. Er selbst soll übrigens einen Stand nach seiner Neigung wählen. Während meiner Abwesenheit wird er groß werden, und bei meiner Rückkehr wird er schon geschickt in seinem Handwerk sein, und ich werde dann sehen, was sich für ihn thun läßt. Auf, mein Kind, küsse deine Tante und laß uns gehen,« fügte der Doktor bei.
Der Doktor hatte noch nicht vollendet, als Pitou schon mit seinen zwei langen Armen auf die Mademoiselle zustürzte; es drängte ihn in der That sehr, seine Tante zu küssen, unter der Bedingung, daß dieser Kuß zwischen ihm und ihr das Zeichen einer ewigen Trennung wäre.
Doch bei dem Worte die Summe, bei der Gebärde des Doktors, der seine Hand in seine Tasche steckte, beim silbernen Klang, den diese Hand eine Masse von großen Thalern, deren Quantum man nach der Ausdehnung des Rockes berechnen konnte, von sich geben ließ, hatte die alte Mademoiselle die Hitze der Habgier bis zu ihrem Herzen aufsteigen gefühlt.
»Ah!« sagte sie, »mein lieber Herr Gilbert, Sie wissen eines wohl.«
»Was?« fragte der Doktor.
»Ei! mein guter Gott! daß niemand in der Welt das arme Kind so sehr lieben wird, als ich!«
Und ihre magern Arme mit den ausgestreckten Armen von Pitou verschlingend, drückte sie auf jede seiner Wangen einen sauren Kuß, der ihn von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln schauern machte.
»Oh! gewiß,« sagte der Doktor, »ich weiß das wohl, und ich zweifelte so wenig an Ihrer Freundschaft für ihn, daß ich ihn unmittelbar zu Ihnen, als seiner natürlichen Stütze, brachte. Aber was Sie mir soeben sagten, liebe Demoiselle, hat mich zugleich von Ihrem guten Willen und von Ihrem Unvermögen überzeugt und Sie sind, wie ich wohl einsehe, selbst zu arm, um einem noch Aermeren zu helfen.«
»Ei! mein guter Herr Gilbert,« entgegnete die alte Frömmlerin, »ist nicht der liebe Herrgott im Himmel, und ernährt er nicht vom Himmel herab alle seine Geschöpfe?«
»Das ist wahr, aber wenn er den Vögeln Futter giebt, so bringt er doch die Waisen nicht in die Lehre. Das muß nun für Ange Pitou geschehen, und das wird Sie bei Ihren geringen Mitteln nicht zu viel kosten.«
»Wenn Sie aber diese Summe geben,« Herr Doktor?
»Welche Summe?«
»Die Summe, von der Sie gesprochen, die Summe, die hier in ihrer Tasche ist?« fügte die Betschwester bei, indem sie ihren gekrümmten Finger gegen den Schoß des kastanienbraunen Rockes ausstreckte.
»Ich werde sie sicherlich geben,« liebe Demoiselle Angélique, doch ich sage Ihnen zum voraus, nur unter einer Bedingung.«
»Unter welcher?«
»Daß das Kind ein bestimmtes Gewerbe erlernt.«
»Es soll eines haben, ich verspreche es Ihnen bei meinem Wort, Herr Doktor,« sagte die Frömmlerin.
»Sie versprechen mir im Ernste?«
»Ich nehme den guten Gott zum Zeugen der Wahrheit meines Schwures,« erwiderte Angélique. Und sie streckte ihre fleischlose Hand in die Höhe.
»Gut, es sei,« sagte der Doktor, während er aus seiner Tasche einen Sack mit rundem prallem Bauche zog; »ich bin bereit, das Geld zu geben, wie Sie sehen; sind Sie Ihrerseits bereit, mir für das Kind zu haften?«
»Bei dem wahrhaftigen Kreuze, Herr Gilbert.«
»Schwören wir nicht so sehr, liebe Demoiselle, und unterzeichnen wir ein wenig.«
»Ich werde unterzeichnen,« Herr Gilbert, »ich werde unterzeichnen.«
»Vor dem Notar?«
»Vor dem Notar.«
»So gehen wir ein wenig zu dem Notar Niguet.«
Der Papa Niguet, dem infolge einer langen Bekanntschaft der Doktor diesen freundschaftlichen Titel gab, war, wie diejenigen von unsern Lesern schon wissen, die mit unserem Buche Joseph Balsamo vertraut sind, der angesehenste Notar des Ortes.
Mademoiselle Angélique, deren Notar Meister Niguet auch war, hatte nichts gegen die vom Doktor getroffene Wahl einzuwenden. Sie folgte ihm daher in die bezeichnete Schreibstube. Hier protokollierte der Notar das von Demoiselle Rose Angélique Pitou geleistete Versprechen,