Er lief zu seiner Tante und erzählte- was vorgefallen war.
Der Vater war beim Kinde geblieben.
Gott allein wohnte als Dritter dem Todeskampfe bei.
Um andern Tage, gegen Mittag, wurde die Thüre der Tante geöffnet.
Der Vater erschien auf der Schwelle.
Er war bleich und stumm.
Er schloß langsam und leise die Thüre; dann setzte er sich immer still, in einen Winkel.
Niemand wagte es, ihn zu fragen.
Endlich wandte sich der kleine Etienne gegen ihn und sagte:
»Vater, wie geht es meinem Bruder?«
»Besser,« antwortete der alte Soldat mit einer Stimme, deren Ausdruck sich nicht beschreiben läßt.
Das Kind war todt.
Am zweiten Tage fand die Beerdigung auf einem kleinen äußeren Friedhofe statt, der viel mehr zur Bannmeile, als zur Stadt selbst gehörte
Es waren wenig Leute da. Der Vater, der Bruder, die Tante und drei bis vier gute Seelen, deren Gebete sich allen Schmerzen weihen, sodann die Douauiers, die Kameraden des Vaters.
Die Priester, die zwei Chorknaben und der Kirchendiener, welche zwei Tage vorher dem Kinde die letzte Oelung gebracht hatten, gingen an der Spitze des Zuges.
Man weiß, mit welcher Geschwindigkeit die Gebete auf dem Grabe der armen Leute gesprochen werden.
Der Priester sprach diese Gebete, sprengte mit dem Wedel ein paar Tropfen Weihwasser auf den Sarg, gab den Wedel den Umstehenden und entfernte sich mit den Chorknaben und dem Kirchendiener.
Die Anwesenden defilirten längs dem Grabe, reichten sich nach und nach den Wedel und schüttelten ihn Einer nach dem Andern.
Gegen die Gewohnheit blieb der Vater bis zuletzt.
Der kleine Etienne wollte bei ihm bleiben; doch der Vater sagte ein paar Worte leise zu einem Douanier, und dieser führte ihn fort.
Es war auf dem Friedhofe nur noch der in die Tiefe des Grabes gelegte Leichnam und auf beiden Seiten des Loches der Vater und der Todtengräber.
Der Todtengräber schickte sich an, die erste Schaufel voll Erde auf den Sarg rollen zu lassen.
Der Vater hielt ihn zurück.
»Was gibt es?« fragte der Todtengräber.
»Es ist eine letzte Vorsichtsmaßregel zu treffen.«
»Welche?«
»Steige ins Grab hinab, hebe den Deckel vom Sarge auf.«
»Aber, Herr . . .«
»Thu, was ich Dir sage.«
Der Todtengräber glaubte, dieser Vater, der seine Frau und sein Kind verloren, wolle sein Kind zum letzten Male sehen.
Er stieg ins Grab hinab, hob den Deckel vom Sarge auf und schob das Leichentuch auf die Seite.
Das Kind war weiß wie Alabaster.
»Oeffne nun die Brust des Kindes mit Deinem Messer.«
Der Todtengräber schaute ganz erschrocken empor.
»Thu, was ich Dir sage,« wiederholte der Vater mit einem immer mehr gebieterischen Tone.
Der Todtengräber gehorchte. Eine lange Wunde war bald vom Brustbein bis zum Nabel geöffnet.
»Nun?« fragte der Todtengräber.
»Nun,« erwiederte der Vater, indem er eine Flasche aus jeder von seinen Taschen zog, »nun leere in die Brust diese zwei Flaschen Vitriol. Ich habe keine Lust, den Körper meines Sohnes von den Leichendieben, um ihn an die Schinder zu verkaufen, stehlen zu lassen.«
Der Todtengräber nahm die zwei Flaschen und leerte sie in die Brust des Kindes; er überließ es sodann der ätzenden Flüssigkeit, ihr Zerstörungswerk zu vollbringen, und schickte sich an, das Grab zu füllen.
Doch der Vater hielt schon den Spaten, schob den Todtengräber mit der Hand zurück und sagte:
»Das ist meine Sache.«
Und er füllte das Grab, auf dem er herumtrat, bis es zum Niveau des Bodens geebnet war.
Sodann entfernte er sich mit gesenktem Kopfe und die Arme gekreuzt, ohne ein Wort zu sagen.«
Einen Monat lang wachten die Douaniers der Brigade der Reihe nach auf dem Friedhofe, ans Furcht, die Leichendiebe könnten den Leib des Kindes stehlen, um ihn an die Schinder zu verkaufen.
III
>Ohne daß der Vater eine Klage von sich gab, ohne daß er eine Thräne vergoß, ohne daß sich etwas in seinem Leben geändert zu haben schien, war sein Schmerz so tief daß sich der kleine Etienne vorstellte, sein Vater wolle sich tödten; er schloß sich deshalb seinen Schritten an, folgte ihm überall, wohin er ging, und verließ ihn eben so wenig, als sein Schatten.
Er wußte nicht, daß sich ein Vater nicht den Tod gibt, so lange ihm ein Kind bleibt, dem er das Leben gegeben hat.
Erst nach sechs Wochen oder zwei Monaten beruhigte sich das Kind allmälig.
Uebrigens sprach der Vater nie von dem Abwesenden. Man würde geglaubt haben, es sei ihm nur ein einziger Sohn geboren worden, hätten sich nicht von Zeit zu Zeit seine Augen mit einem tiefen Schmerz auf das Bett, wo der kleine Adolphe den letzten Seufzer ausgehaucht, geheftet.
Doch nach und nach nahm Alles im Hause wieder den gewöhnlichen Gang an, und der kleine Etienne stellte sich vor, sein Vater fange an zu vergessen, weil er selbst vergaß.
Im folgenden Jahre war das Gras auf dem Grade gewachsen. Und welches Auge, das eines Vaters und einer Mutter ausgenommen, weiß, was unter dem Grase eines Grabes ist?
Etienne war allerdings allein geblieben; doch mit der Einsamkeit war bei ihm der Geschmack für das Lesen gekommen. Während der langen Abende des Winters von 1821 auf 1822 blieb er zu Hause und las entweder die Romane mit blauen Decken, die Jeden von uns an die ersten Tage unserer Jugend erinnern, oder die Reiseerzählungen, die man hätte belustigend machen können mit der Hälfte des Talents, das man gebraucht hat, um sie langweilig zu machen; Diese Erzählungen von Fahrten nach den neuen Welttheilen gaben ihm den Gedanken ein, Seemann zu werden; da aber die erste Bedingung, welche die Natur für das Gewerbe eines Seemanns stellt, die ist, daß er das Meer ertragen kann, so beschloß man, Etienne sollte bei der ersten Fahrt sein, die sein Vater mit dem Wachschiffe machen würde.
Von dem Augenblick, wo das Wachschiff den Fluß verließ, bis zur Minute, wo es in denselben zurückkehrte, erbrach sich der zukünftige Seemann unablässig.
Der Vater, dem es ziemlich anstand, daß der kleine Etienne Seemann würde, hielt sich nicht für geschlagen in der Person seines Sohnes. Man machte einen zweiten Versuch, doch der zweite Versuch war noch unglücklicher, als der erste. Das erste Mal hatte sich das Kind nur bis zur Galle erbrochen; das zweite Mal erbrach es sich bis zum Blute.
Diesmal beschloß man, etwas Anderes zu suchen.
Doch es war schwierig, etwas Anderes zu finden.
Die Erzählungen des Vaters, so kurz sie waren, die Reiseberichte von Laharpe, so wenig anziehend sie sind, hatten in den Geist des Kindes einen wahren Beruf für die herumschweifende Lebensart infiltrirt.
Man schlug seinem Vater vor, ihn Soldat werden zu lassen.
Er schüttelte den Kopf.
Er war der Meinung, es sei erlaubt, Soldat zu werden, wenn Krieg stattfinde: der einzige Reiz des Soldatenlebens sei die Gefahr, getödtet zu werden; in Friedenszeiten aber sei der Soldatenstand seiner Ansicht nach der letzte der Stände.
Es gab einen Stand, der den Knaben noch viel mehr anlockte, als der des Seemanns oder des Soldaten: das war der Gauklerstand.
Ah!