»Warum dürfte sie einem tugendhaften Menschen nicht gefallen?« fragte Wittekind. Er kam übrigens einen Schritt zurück, da er sich der Tür schon wieder genähert hatte.
Auf seinen Hut blickend setzte er hinzu:
»Was ist sie eigentlich? Witwe oder verheiratet?«
»Baronin Tilburg versichert, dass sie Witwe ist«, antwortete Waldenburg, ohne eine Miene zu verziehen. »Infolgedessen kommst du?«
»Ich danke«, sagte Wittekind.
Ein Missgefühl schüttelte ihn plötzlich. Sie bei ihm zu seh’n … Nein! – — Er ging wieder zur Tür.
»Ich möchte jetzt mit meinem Sohn einige Tage allein sein«, setzte er darauf hinzu.
»Nun, wie du willst! – Von Salzburg zieh’n wir dann an die Ostsee, ins Bad; ganz in deine Nähe. Bist immer willkommen, alter Freund; – ich sage das nur als avis au lecteur. Denn du wirst wohl nicht kommen. Du bleibst nun also bis ans Lebensende auf dem schmalen Pfade der Tugend; und auf dem festen Land. Ich brauche mehr Platz – und ein weniger solides, ein etwas lockeres Element. Mein alter guter Wahlspruch ist halt: Vogue la galère!«
»Also noch einmal: wohl bekomm’s!« sagte Wittekind mit ernstem Lächeln, und bot ihm zum Abschied die Hand.
Waldenburg schlug ein.
»Leb’ wohl, Idealist! Leb’ wohl, ›wahrer Mensch‹!« – —
Wittekind verließ das Zimmer. Er sehnte und freute sich, in das seine zu kommen, und zu seinem Jungen. Leise ging er über den halbdunklen Vorplatz; nur ein Lämpchen brannte an der Wand. Im Hause war es still.
Als er aber in sein Zimmer trat, in dem der unsichtbar gewordene Mond noch durch die erhellte Luft wirkte, sah er, dass er zu spät kam. Berthold lag schon im Bett, und in tiefem Schlaf; durch die Stille horchend konnte Wittekind seine ruhigen, gleichen Atemzüge hören.
VI. Kapitel
Die Sonne schien früh in die Zimmer der ›Gemse‹, so viele ihrer nach Osten lagen; sie schien auch auf die Betten von Vater und Sohn, doch ohne sie zu wecken. Als Wittekind, spät eingeschlafen, nach einer traumreichen Nacht spät genug erwachte, schlief Berthold noch immer fort. Der Vater staunte, lag noch eine Weile, wartete und träumte; endlich stand er auf. Er kam in den Garten hinunter, um dort am Felsen zu frühstücken; Kathi trat ihm morgenfrisch entgegen und überreichte ihm einen Brief.
»Den hat der lange Herr mit den halbeten Augen für Sie dagelassen«, sagte die Schelmin; »denn er ist schon fort. Und der Herr von Saltner ist auch schon in die Stadt hinunter.«
Wittekind öffnete das Billet; es war von Waldenburgs Hand, gleichmäßig und sauber geschrieben.
›Lieber Freund, das Schicksal hat gesprochen, wie gewöhnlich in Gestalt einer Frau! Unsere sehr verehrte Malade imaginaire, die Baronin Tilburg, hat in aller Frühe Botschaft herausgeschickt: ihre Nerven verlangen ungestüm nach Salzburg. Ich gehorche. Wir brechen auf. Adieu! An deiner Ostsee, hoff’ ich, sehen wir uns wieder!‹
Wittekind lächelte über die ruhelosen Nerven der Baronin; dann gab es ihm auf einmal einen starken, schmerzhaften Ruck. Frau von Tarnow war also fort; die weiße Sklavin dieser Baronin, mit der philosophischen Geduld und den unergründlichen Augen. Wozu sollte er sich verhehlen dass sie ihm einen Eindruck gemacht hatte, wie seit langen Jahren keine Frau. Ein paar Stunden lang; wie ein Frühlingstag im Winter war sie vorübergezogen; nun beginnt wieder die öde Zeit, wo der eintönige, kalte Schnee Vergangenheit und Gegenwart bedeckt. Er wird sie vergessen, wie so manches andere; – aber was heißt das: vergessen? Nur umso leerer wird sein Leben sein…
Aus so trüben Gedanken, einer ungewohnten Last auf seinem gesunden Herzen, weckte ihn der Morgengruß seines lieben Jungen, der nun endlich erschien. Berthold hatte blühende Wangen, fast wie ein so recht ausgeschlafenes Kind; ein tröstlicher Anblick für das Vaterauge. Auch der lustigen Kathi, die ihnen das Frühstück brachte, schien diese Rosenblüte seiner verjüngten Schönheit aufzufallen; sie sah ihn wieder mit offenherziger Bewunderung an. Aber sie hätte auch eine schöne Wachsfigur oder ein edles Pferd nicht harmloser angeseh’n; dieser zarte Jüngling war für sie aus einer andern Welt. Leise summend ging sie ins Haus zurück; Bertholds Augen folgten ihr mit nicht so ganz unbefangener Freude.
»Du bist mir noch eine Erklärung schuldig«, sagte Wittekind, als sie nun in dem kühlen Felsenschatten allein saßen; das ganze Gärtchen war um diese Stunde leer. »Warum du gestern diesen gewaltigen Hunger hattest; – und in Grödig, beim Wiederseh’n, sagtest du davon kein Wort!«
»Vater, ich konnte nicht«, erwiderte Berthold mit seinem treuherzigen Lächeln. Er erzählte dann stockend, aber peinlich wahrhaft, wie lange er gefastet hatte, und wie das gekommen sei. Er verschwieg auch nicht die Begegnung mit Afinger, und dass er diesem ›Weltverbesserer‹ versprochen hatte, ihn an einem der nächsten Abende zu besuchen. Wittekind hörte mit äußerer Fassung zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Seine Augen waren aber beständig auf dieses schwärmerische Antlitz gerichtet, in Freude, Sorge und Nachdenken.
»Ich mache dir keine Vorwürfe«, sagte er, als Berthold geendet hatte; »wozu! Du sagst dir, wie ich merke, schon selbst, dass es eine unendlich jugendliche Unvernunft war, so eine Hungerprobe auf dieser Erholungsreise anzustellen, die dein Arzt dir verordnet hatte. Ich verwehre oder widerrate dir auch nicht, diesen jungen Sozialisten aufzusuchen – denn dafür halte ich ihn – und ihn und seine Gesinnungsgenossen näher kennenzulernen. Die Welt erkennt man nur in der Welt. Auch wenn du vorläufig eine Weile mit den Irrenden irren solltest, das fürchte ich nicht. Dein Herz wird deinem Kopf schon die Wege finden. Aber eins muss ich dir sagen, Kind. Ob die Welt nun aus Plan oder aus Notwendigkeit so ›unvollkommen‹ ist, wie sie uns erscheint, – alle Bertholds der Welt können das nicht ändern. Und wie heilig ernst wir’s auch nehmen sollen, zu ihrer Verbesserung mit allen Kräften zu helfen, mit der einen großen Resignation müssen wir beginnen!«
»Ich weiß, Vater, ich war dumm«, entgegnete der Jüngling; »mit dem Hungern, mein’ ich. Ich weiß auch, dass nur ein Narr die Welt neu machen will. Aber so ruhig und geduldig zuseh’n wie du – Vater, das kann ich nicht! So wie es ist, frisst es mir am Herzen … Gestern sagt’ ich dir, als ich gegessen und getrunken hatte: ›ich bin wieder ein Mensch!‹ Wie falsch und wie dummstolz war das. Eine Bestie war ich wieder, die satt und zufrieden verdaut, nur um sich bekümmert. Und wenn ich diese sogenannten Menschen sehe, die vielleicht ihr ganzes Leben lang nichts anderes tun, als mit oder ohne Grazie verdauen – diese Tilburgs von gestern – oder diesen geistreichen Waldenburg mit den kalten Schlangen-Augen, die ihrer Beute nachgeh’n, ihrer schnöden Lust, denen das Leid der andern wohl gar noch eine grausame Freude, eine Erhöhung ihres Weltgenusses, ihres Selbstgefühls, ihres Vorzugs ist – so wird mir hart, furchtbar hart zu Mut, während ihr mich weich nennt; so wäre es mir eine Wonne, Vater, diese hochmütigen Schmarotzer, dieses blutsaugende Ungeziefer vom Erdboden zu vertilgen, damit für die Besseren Platz wird, damit die Unglücklichen Luft, Licht und Leben haben!«
Wittekind lächelte. Indem er seinem Jungen in die leuchtenden, fast brennenden Augen sah und heimlich erstaunte, sagte er:
»Es scheint, dein Sozialist hat schon abgefärbt! – Nun, was tut das. Deine neunzehn Jahre. … Ich gebe dir auch gern diese Tilburgs preis; und auch den – Waldenburg mit den Schlangen-Augen; mir scheint, du hast ein ahnungsvolles Gemüt. Aber, guter Junge! Wenn wir anfangen wollten, auszurotten, was uns nicht gefällt, wo hörten wir dann auf? Und was würde dann aus dieser leidlich zivilisierten Welt, als ein einziger Urwald, in dem lauter wilde Tiere sich gegenseitig zerfleischen? Welcher Engel vom Himmel hat dir denn auch gesagt, dass die andern, die du bedauerst, wirklich die ›Besseren‹ sind? Dass sie nicht auch gebrechliche, selbstische Menschen sind, die dich treten würden, wenn sie über dich kämen, die zu Tilburgs würden oder zu Waldenburgs, dass du dann auch wieder ergrimmen und dir sagen müsstest: vertilgen wir sie vom Erdboden, damit für die Besseren Platz wird!?«
Der Jüngling rückte unruhig auf seiner Bank; er möchte sie leicht umgeworfen haben, wäre sie nicht bodenfest gewesen. Mit der Hand über