Waldenburg streckte sich wieder auf seinem Sessel aus und begann die neue Zigarre zu rauchen.
»Lieber Freund«, sagte er in seinem schönen, reinen, etwas theatralisch ausgefeilten Hochdeutsch, – »du kommst mir vor wie einer von diesen freiwilligen Nordpolfahrern, der etwa zu einem Neapolitaner sagte: auch wir leben da auf Jan Mayen oder Spitzbergen ganz behaglich! Erst im März vereisen wir ganz; im Juni wird’s schon wieder eisfrei um uns her; im Juli haben wir ganz nette Tage, beinahe wie Sommer, und selbst im Winter kommen wir manchmal über Null! – Der Neapolitaner würde darauf antworten: Aber zum Teufel, ich will das ganze Jahr schöne Jahreszeit haben, und ich will über die Schönheit dieser schönen Welt außer mir geraten, schwelgen, wie ein Gott genießen! – Was hast du auf deinem Gut, am Wasser, mit den Zuckerrüben? Was hast du an deinen Vorträgen für diese bornierten Bauern, die sich Pächter und Gutsbesitzer nennen, und an deiner Hingebung für zehntausend oder zwanzigtausend Schafsköpfe, die dir achtungsvoll zublöken: du sollst unser Hauptkopf sein?«
»Nun ja, du bist auch der Alte«, sagte Wittekind lächelnd. »Wir reden wohl auch umsonst. … Ich auf meinem Spitzbergen halte mich eben noch immer an meinen alten Spruch: Wer sich für nichts begeistern kann, den soll man begraben!«
»Geh’ mir doch, alter Träumer«, entgegnete Waldenburg mit seinem überlegensten Lächeln. »Kinder spielen, Jünglinge begeistern sich; Männer werden etwas. So hat die Natur es gewollt. Das, wofür die Jünglinge sich begeistert haben, muss den Männern dienen und gehören: Frauenliebe, Ehre, Bacchus (er leerte sein Glas, und schenkte wieder ein), Kunst, Wissenschaft, der Staat – und so weiter. Was ich erreiche, das bin ich; und für den wahren Menschen ist nichts wahrhaft wirklich, als sein geliebtes Ich.«
»Danach lebst du also.«
»Gewiss!«
»Nun«, sagte Wittekind trocken, die Arme übereinander legend, »so ungefähr spricht man auch von dir. Du bist ja ein sogenannter berühmter Mann geworden, von dem man viel spricht; ein witziger Kopf, eine gute Feder, eine von den Säulen im Staat, vielleicht noch einmal Minister – und dann also auch Exzellenz. Außerdem ein Liebling der Frauen, gefeierter Don Juan; na, diesem Beruf ergabst du dich ja schon auf der hohen Schule, – oder vielmehr schon auf dem Gymnasium. Du bist also der ›wahre Mensch‹ und lebst für dein Ich!«
»Ja, mein Herr Idealist. Ich tue, was alle tun, nur mit mehr Geist, als die meisten; ohne all den buntscheckigen Aberglauben, der diese Narren aufhält: darum bleiben sie eben hinter uns Klügeren zurück! – Lasst euch doch nicht auslachen, ihr mit euren ›Idealen‹, die euch zum Narren halten. Die guten Köpfe haben so nach und nach alle die alten Aberglauben abgeschüttelt: Fetische, Gestirne, Feuer, gute und böse Geister, Nemesis und Vorsehung; nur der bleichsüchtige Philister-Aberglaube an das sogenannte ›Wahre, Gute, Ideale‹, der ist noch immer im Schwung. Mich narrt er nicht mehr; er liegt hinter mir. Ich bin auf der Welt, um sie zu genießen – Wohl bekomm’s! Das tut’s auch! – Es gibt Genüsse genug, wenn man nur Geist genug hat, um sie sich zu verschaffen: so eine gute Zigarre, Diners, gute Bücher, Theater, alle schönen Künste, Seebäder, Natur, Stellung und Macht, Orden und Titel; eine schöne Frau erobern, eine schöne Frau verlassen; hübsche Verse machen, angebetet werden, Befriedigung der Rache, Schadenfreude, Protegieren, den Herrgott spielen. … Alles, alles ist da! Vogue la galère!«
Wittekind betrachtete Waldenburg, er konnte nicht hinwegsehen; auf diesem geistreichen, beinahe schönen Gesicht schwebte ein eigentümlich teuflisches Lächeln, in das er sich mit stillem Grauen vertiefte. ›Lebten wir noch im Mittelalter‹, dachte er, ›so würd’ ich vielleicht ernstlich glauben dass da der Teufel sitzt. … Ein Teufel, der alle Formen der feinen Welt angenommen hat, der sehr einnehmende Manieren hat und Geist und Witz und sogar Poesie; aber alles, was er sagt, ist im Grunde teuflisch…‹
Mit äußerer Ruhe fragte er nach einer Weile:
»Bist du gegen jedermann so aufrichtig?«
»O nein«, sagte Waldenburg, seinen· Rauch majestätisch in die Luft blasend. »Im Gegenteil. Es ist mir zuweilen ein angenehmes Bedürfnis, ganz unverschämt offenherzig zu sein, – und dein bürgerlich-kritisches Gesicht reizt mich eben dazu; aber noch öfter ist es mir Bedürfnis, mit den lieben Mitmenschen Komödie zu spielen. Jeder tut eben, was er kann! Ich habe mehr Talent zum Schauspieler als die meisten, die sich da auf der Bühne vor die Lampen stellen; und wer sein Pfund vergräbt, der ist ein fauler Knecht. Darum spiele ich Komödie, mein Herr Sittenrichter, und mit Urbehagen; aber nur auf der großen Weltbühne, zu meinem Benefiz. Da zeigt sich erst das Genie; und was ist all das Agieren auf den hohlen Brettern gegen meines! Der Komödiant muss die Rollen spielen, die man ihm geschrieben hat; ich spiele nur Rollen, die ich mir selber erfinde, die ich selber dichte, die immer wechseln und neu sind, – mit kleinen, interessanten Gefahren ausgestattet, mit kleinen verfluchten Aufregungen gewürzt. Dazu gehört Talent! Und das ist Lebensgenuss!«
»Und was man so Wahrheit nennt?« fragte Wittekind.
»Kommt man mit Wahrheit durchs Leben? Lass’ mich doch mit diesem alten Aushängeschild in Ruh’. Wenn ich, Friedrich Waldenburg, das erreichen will, was die Dummköpfe oder Strohwische zu besitzen pflegen: Rang, Ansehen, Reichtum – kann ich das durch Wahrheit erreichen? Alle Wetter auch! Ich, der ich zum Genuss geschaffen, ich, der ich als ein echter Aristokrat auf die Welt gekommen bin – wenn auch mein Vater das bürgerliche Wappen der Laden-Elle führte – ich, der ich mich in jeder Fingerspitze, in jeder Gewohnheit des Lebens, in jedem Instinkt wie einen Freiherrn fühle, ich soll im Parterre stehen bleiben, wo die Schneider und Schuster steh’n? Nein, mein Lieber, mein Platz ist in der Loge, bei den hohen Herrschaften. Aber um da hinzukommen, um mich da einzuwohnen, muss ich hübsch mit Talent meine Rollen spielen, – zuweilen den Bedienten, zuweilen den verruchten Kerl; – nun Gott sei Dank, ich habe das Talent.«
Wittekind richtete sich auf und ging langsam vom Fenster weg, gegen die Tür. Mitten im Zimmer jedoch blieb er wieder steh’n. Er sagte dann mit etwas bewegter Stimme, doch bedächtig:
»Aber du verlangst wohl nicht, dass ich dich beneide. Was mich betrifft, so würd’ ich lieber in dem Hundestall vor meiner Haustür verfaulen, als für so eine ›Loge‹ mein bisschen Selbstgefühl, meinen alten Aberglauben an Freiheit, Wahrheit, Menschenwürde opfern. … Aber das führt zu weit. Und über den breiten Fluss hinüber, bei so ungünstigem Wind, verstünden wir uns doch nicht. Also nehmen wir einander lieber wie wir sind, und damit holla. – Nur noch eine Frage!«
»Bitte!« erwiderte Waldenburg mit vollendeter Artigkeit, und mit jenem diabolischen, behaglichen Schmunzeln, als wären sie im schönsten Einverständnis, als sagten sie sich lauter gute Dinge.
»Wenn ich nun deine Aufrichtigkeit missbrauchte?«
»Bei wem?« fragte Waldenburg zurück. »Da, wo es mir schaden könnte, da verkehrst du nicht; die andern amüsiert oder ärgert es, ohne mir zu schaden.«
Nach kurzem Schweigen erwiderte Wittekind:
»Nun, eine gewisse Größe ist in deinem Zynismus; das muss man dir lassen. – Ich fragte selbstverständlich nur so beispielsweise; denn ich missbrauche keines Menschen Aufrichtigkeit. – — Also gute Nacht. Morgen willst du fort. Wir sind dann wieder weit auseinander, wie bisher; und sehr oft werden wir uns wohl nicht seh’n!«
Waldenburg lächelte:
»Warum nicht? Als Männer von Geist können wir uns ja über hundert Dinge vortrefflich, unterhalten, wenn wir auch über das hundertunderste verschiedener Meinung sind —«
»Über das Erste, Waldenburg.«
»Nun gut, über das Erste. Dann fangen wir morgen bei dem Zweiten an, wo wir uns versteh’n. Willst du morgen in Salzburg mein Gast sein? Ich gehe ins Hotel N… . Ein sehr angenehmes Haus. Du würdest vermutlich die Gräfin Lana bei mir seh’n —«
»Die Frau des früheren Ministers?«
»Ja. Eine ausgezeichnete Frau: – sie kann dir vielleicht einmal nützlich sein —«
Wittekind